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Choreografierter Atem, geatmeter Tanz – « M »

Rasant oder entspannt erfreut die Cie. Marie Chouinard mit « M »

Seit mehr als 30 Jahren ist die Tänzerin und Choreografin Marie Chouinard, Officer of the Order of Canada, zu Gast in Wien. Im diesjährigen ImPulsTanzFestival zeigt sie mit zehn Tänzer:innen ihre jüngste Kreation: « M ». Expressiv und voll Lebensfreude bewegen sich zwölf Tanzkörper im wechselnden Licht auf der Bühne des Volkstheaters. Auch die letzte Vorstellung im Rahmen des ImPulsTanzFestival war ausverkauft und ist mit Begeisterung aufgenommen worden.

Lässiger Beginn  von « M », der jüngsten Kreation von Marie Chouinard.Chouinard muss nicht provozieren, doch durchweht ihre Choreografien und schon die frühen Auftritte als junge Tänzerin immer ein anarchistischer Atem. Ob sie die Gäste im Burgtheater mit bODY_rEMIX/gOLDBERG_ vARIATIONS (ImPulsTanz Festival, 2005) schockt oder mit ihrer Interpretation des sexgierigen Fauns erstaunt (ImPulsTanzFestival, 1988, 1999), im Mittelpunkt steht immer der tanzende Körper, die Freude an der Bewegung und am Leben. Diesmal, so sagt sie in einem lyrischen Text, dass die Gruppe „eine Huldigung des Lebendigseins zwischen Wahnsinn und Weisheit“ zeigt.
Sie recken sich, sie strecken sich, werfen die Arme hinter sich. In neonfarbenen langen Hosen, mit ebensolchen Perücken lassen sich die Tänzer:innen (die Frauen sind deutlich in der Überzahl) von ihrem Atem antreiben. Die Oberkörper bleiben nackt, man sieht, wie die Rippenbögen sich weiten, wenn die Lunge pumpt, das Rückgrat sich biegt, wenn der Körper sich beugt. Anfangs liegen fünf Tänzerinnen entspannt wie Nixen am Strand, erheben sich träge, atmen in ein Mikrofon in der Mitte der leeren Bühne, jede auf ihre eigene Art und Weise. Die Methode expliziert sich von selbst: die Atemgeräusche, später auch Stimmgeräusche, Silben in einem Kauderwelsch, Pfeifen, Vogelgesang werden aufgezeichnet, gesampelt und als Loops zurückgespielt. Die Gruppe bewegt sich im Kreis, im Takt des Atems beschreiben sie in Vierteldrehungen auch ihren persönlichen Kreis.Ein fröhlich-grotesker Marsch im Polyrhythmus. Lachen ist in einer Tanzperformance keineswegs verboten. Interessant, wie viele Bewegungsmöglichkeiten offen stehen im Rhythmus des Atems. Mit jeder neuen, präzis ausgeführten Sequenz scheint es, dass nur diese eine Schrittfolge die richtige ist. Immer wieder löst sich eine / einer aus der Gruppe, um sich im eigenen Rhythmus um die eigene Achse zu drehen. Eine sonnige, sinnliche  und überaus stimmige Performance ist der Cie. Marie Chouinard hier gelungen, der man nicht ansieht, dass die Choreografin schon bald ihren 70. Geburtstag feiern wird. « M », die aktuelle Choreografie, hat sie mit ihrem Team während der Pandemie entwickelt. Im Jänner dieses Jahr war die Uraufführung in Quebec.
Die kräftigen Bilder sind nicht nur den Leuchtfarben der Kostüme und Perücken zu verdanken, sondern auf den wechselnden Farben des Lichts, Auch knieend kann getanzt werden, Erotik und Freude vermitteln. das von der hinteren weißen Wand abzustrahlen scheint. Es verändert die Hautfarbe der Tänzer:innen, blass und grau, grün und kalkweiß und im weißen Licht natürlich strahlend. Begleitet werden die gespeicherten persönlichen Rhythmen und Töne von einem angenehmen elektronischen Sound, der an warmen Mairegen erinnert, unterbrochen von fröhlichem Vogelgezwitscher. Die abwechslungsreiche, ungemein ästhetische Aufführung folgt, so scheint mir, einer genau errechneten Regel. Alles, die Atemgeräusche, die Stimmen, die Farben und die Bewegungen steuern anschwellend auf ein großartiges Ende zu. Dass dieses dann nicht so wird, wie es sich die in die Stimmung hinein klatschenden übereifrigen Banausen wünschen, zeigt den Esprit, der dieser kreativen Künstlerin zu eigen ist.
Davor aber versetzt mich der geometrische Tanz, Mathematik hin, Regel her, in eine fröhliche Trance.
Sinnlich, sonnig, live – so leicht und fröhlich war Tanz schon lange nicht. Kleine Marginalie: Das Adjektiv schön ist in diesem Jahrhundert ausradiert worden, schöön!, das ist verpönt, also weicht man aus und sagt ästhetisch, also die Ästhetik betreffend. Oder auf die Betrachterin „harmonisch wirkend“, das kommt auf hohen Stelzen daher, also lieber nicht aus dem Griechischen übersetzen. Egal, in der Umgangssprache wird statt des alt gewordenen Adjektivs „schön“ das neue „ästhetisch“ verendet. Gemeint ist jedoch das Gleiche: Es hat gefallen. Und was die Aufführung von « M » betrifft, passt auch harmonisch, formvollendet und geschmackvoll, doch dieses Wort ist schon wieder zu trivial, passt besser in den Prospekt eines Möbelhauses. Zurück zu « M » wie Marie (Chouinard). Oder, wie Macho, Machine, Métro, Mai, Mois. Mer. Ich nehme Marie am Meer im Monat Mai. Auch zu Nonsens kann eine perfekte Aufführung exzellenter, überaus lebendiger Tänzerinnen (und Tänzer) anregen.
Gerne würde ich ihren unterschiedlichen Atemrhythmen folgen, mit fuchsroter Frisur aus Kunsthaar und neongelber lockeren Hose am Meeresstrand weilen und mit fröhlichen Menschen tanzen, tanzen, tanzen, bis die Füße brennen. Zum Teufel mit der Theorie.

Cie. Marie Chouinard: « M », 12., 14., 15. Juli, ImPulsTanzFestival im Volkstheater.
Choreografie und Gesangspartitur: Marie Chouinard
Tänzer:innen: Carol Prieur, Valeria Galluccio, Motrya Kozbur, Paige Culley, Clémentine Schindler, Luigi Luna, Jossua Collin Dufour, Adrian W.S. Batt, Celeste Robbins, Michael Baboolal, Rose Gagnol, Scott McCabe . Choreografin Marie Chouinard, für ihr Œuvre geadelt mit dem kanadischen Orden „des Arts et des Lettres“. Musik: Louis Dufort
Beleuchtung, Bühnenbild, Kostüme und Perücken: Marie Chouinard,
Make-up: Jacques-Lee Pelletier; Sprachaufzeichnung: Vincent Blain; Audioprogrammierer: Maxime Lambert, Jérôme Guilleaume, Félix Lefebvre
Kamera und Schnitt Teaser: Gabriel Savignac
Fotografie: © Sylvie-Ann Paré
Uraufführung : 26. Jänner 2023, im Grand Théâtre de Québec.