Akemi Takeya: „Schrei X8“, ImPulsTanz
Akemi Takeya, eine der Säulen des heimischen freien Tanzes und der Performance, wollte als Kind Sängerin werden. Das ist nicht gelungen, doch die Stimme als Ausdrucksmöglichkeit begleitet sie seit sie auf der Bühne steht. In ihrer jüngsten Arbeit, „Schrei X8“, stellt sie die Stimme, den Schrei, „als Urform der Kommunikation“, in den Mittelpunkt.
Geschrien wird nicht nur mit Stimmbändern und Kehle, sondern auch mit dem Körper. Der Tänzer Evandro Pedroni und der Schlagzeuger Didi Kern assistieren im Rahmen der ImPulsTanz Festival im Odeon.
Eine zierliche Gestalt mit schwarz verhülltem Kopf wird auf der weiß ausgelegten Bühne abgesetzt. Sie bleibt unidentifiziert und stumm, während ihre Stimme aus dem Off in ihrer Muttersprache von der Künstlerin Akemi Takeya erzählt. Keine Überraschung, dass sie schon, kaum geboren, den ersten Schrei ausgestoßen hat. Takeya ist 1961 zur Welt gekommen, 1991 ist sie in Wien gelandet. Und geblieben.
Die Erzählung ihrer künstlerischen Ideen und (nicht) erreichter Ziele ist dementsprechend lang. Währenddessen ist Zeit genug, die Möblierung der Bühne zu betrachten: Links vor dem schwarzen Flügel ragt eine bunte Skulptur empor, aus der sich später Pedroni als Schamane schält. Rechts fasziniert eine Installation von Mathias Lenz, die an die beweglichen Werke von Jean Tinguely (1925–1991) erinnert, eine hoch aufragende Zitronenpresse, mit Uhrwerk und einem Schlauchgewirr, das die Limonade in ein Gefäß leitet. Plop, plop, die ausgepressten Zitronenhälften plumpsen aus der Apparatur.
Seit Akemi Takeya 2017 mit dem Lemonismus als Gegenstück zu schon vorhandenen Ismen (Dada-, Symbol-, Aktionismus) einen neuen erfunden hat, ist die Zitrone quasi zum Markenzeichen geworden, die Farbe Gelb beherrscht auch die aktuelle Performance.
Akemi Takeya ist eine hervorragende Performerin mit zwingender, einnehmender Bühnenpräsenz. In vielen Details erinnert sie an ihre eindrucksvollen Arbeiten der vergangenen 30 Jahre. Da ist der Glasfiberstab, mit dem der Schamane das Ritual dirigiert, der später zu einem Wurfgeschoss, zu einer Waffe wird. Gesten und Bewegungsabläufe sind dem Publikum Takeyas wohlbekannt.
30 Jahre sind eine lange Zeit, allein im ImPulsTanz Festival war Takeya mehr als 20-mal zu Gast, die von ihr gehaltenen Workshops nicht eingerechnet. Da gibt es viel zu erinnern und zu erzählen. Und was nicht erzählt werden soll, ist auf der Videowand zu sehen, tanzende japanische Zeichen und lateinische Buchstaben, Pixelmuster und Köpfe von Berühmtheiten aus den Kindheitsjahren Takeyas. Es sind viele, die sie „über viele Jahre beeinflusst haben“ und mit denen sie, wie sie sagt „in Kontakt tritt“. Andy Warhol oder Joseph Beuys sind dabei, Yoko Ono oder Laurie Anderson. Als Pixelporträts flimmern sie vorüber, bis es vor den Augen nur noch flirrt.
Obwohl die Vorstellung nur eine Stunde kurz ist, will Takeya zu viel, jede Sequenz ist zu lang, viel zu viel ist da hineingestopft in diesen Schrei, der am Ende erklingt. Irrtum, der Schrei ist noch lange nicht das Ende der Vorstellung. Mit ihrer kräftigen Stimme, ihrem langen Atem und überbordender Lungenkapazität ehrt Takeya auch Maria Callas, indem sie den Anfang der bekannten Arie „Mio caro babbino“ aus Puccinis Oper „Gianni Schicchi“ intoniert. Auch der Schöngesang liegt ihr, danach werden die Schreie fortgesetzt, auch Pedroni beteiligt sich (wieder sind die Köpfe verhüllt, diesmal in Gelb) an der Modulation der Schreie. Sie verwandeln sich in Hexengelächter und erbärmliches Geheul, bleiben Takeya im Hals stecken, sind unhörbar. Ein effektvolles Ende, das nicht genützt wird. Im Programmheft ist Johannes Maile für die Dramaturgie angegeben. Doch Takeya ist eine eigenwillige Künstlerin, die sehr genau weiß, was sie will und dies auch vollbringt. Dramaturgie hin, Dramaturg her.
Am Ende wird Takeya zur schwebenden Fee. Vom Bühnenhimmel fällt ein aus weißen Schläuchen gewebtes Kleid auf die Performerin, der Techniker verbindet es mit der Zitronenpresse und langsam fließt die Limonade in das sich gelb und gelber färbende Kleid. Schön! Pedroni hilft ihr heraus. Wieder zeigen sich die vereinzelten Applausversuche als Irrtum. Ein kleiner Bildschirm wird aufgestellt, zur dumpfen elektronischen Musik plappern stumm verschiedenfarbige Lippen. Aber jetzt! Das Gerät wird abtransportiert, der Applaus darf beginnen, aber die Protagonisten kommen nicht, um sich zu verbeugen, noch muss ein Text, der auf der Videowand abrollt, gelesen werden. Der könnte für alle, die noch nicht gesättigt sind, auch im Programmheft stehen.
Die Trommelschläge, mit denen Kern die Performance begleitet und unterstützt hat, bleiben im Kopf, das dichte Gewebe der visuellen Eindrücke hat sich zu einem bunten Knäuel gewickelt. 30 Jahre Akemi Takeya sind nicht so einfach in eine Vorstellung zu packen.
Doch, dass es der Tänzerin ein Anliegen war, diesen „Schrei X8“ auf die Bühne zu bringen, versteht man. Das X erinnert an den Physiker Wilhelm Conrad Röntgen (1845–1923), der 1895 die X-Strahlen entdeckt hat, die später ihm zu Ehren in Röntgenstrahlen umbenannt worden sind. Akemi Takeya hat sich hinter den Röntgenschirm gestellt und dem Publikum erlaubt, einen tiefen Blick in ihren Schrei-, Atem-, Bewegungs- und Denkkörper zu tun.
Akemi Takeya: „Schrei X8“
Konzept, Choreografie, Text, Komposition, Kostüm, Performance: Akemi Takeya.
Performance und Text: Evandro Pedroni. Performance und Musik: Didi Kern. Sounddesign: Ursula Winterauer; Visual Design: Maximilian Pramatarov, Yuwol June C., Lichtdesign: Nicholas Langer: Dramaturgie: Johannes Maile. 21. und 23. Juli 2022, ImPulsTanz Festival
Fotos ©: Yako Oneo