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Lauwers / Needcompany: „All the Good“, ImPulsTanz

An der gläsernen Installation dürfen alle basteln.

Die belgische Needcompany, das ist die Familie Lauwers: Vater Jan, der Regisseur, Mutter Grace Ellen Barkey, die Choreografin und die beiden erwachsenen Kinder, Romy Louise und Victor. Sie stehen als Familie auf der Bühne, sind sie selbst und spielen zugleich ihre Rollen, vermischen Privates mit Öffentlichem, reden über den Krieg und die Liebe, über Gewalt und Sex, über den Tod und die Unsterblichkeit der Kunst.

Was ist wahr, was ist fiktiv an diesen Geschichten? Das ist nicht wichtig, denn Wahrheiten gibt es viele und auch die Geschichte ist nur ein G’schichtl, das irgendjemand irgendwann erzählt hat.
Auf der Bühne passiert vieles zugleich: Vorne schläft der israelische Tänzer (Elik Niv), hinten wandelt sich die Skulptur der Gläser aus Hebron zu einem Saurier.Es wird gesungen, getanzt und gepfiffen, gestritten und geschrien, geschmust und gelacht. Ernsthaftigkeit und Ironie halten sich die Waage. Lauwers selbst ist nur zu Beginn präsent, er bezeichnet sich als „irreführenden Erzähler“, stellt seine Mitspieler:innen vor und auch sein „Selbstporträt“, den französischen Schauspieler Benoît Gob, der die Rolle des Vaters übernommen hat. Lauwers sieht vom Rand der Bühne sich selbst zu und sieht „einen Künstler, der in einem Netz von Zweifeln gefangen ist. Einen düsteren Romantiker.“ Tochter Romy drückt das pragmatischer aus: „Ein Mensch sieht im Spiegel einen Menschen, ein Affe einen Affen.“ Zwei keineswegs langweilige Stunden lang wird „ein Tag im Hause Lauwers“ in der alten Bäckerei in Molenbeek, einem Viertel nahe der Altstadt von Brüssel, wo ein großer Teil der Bevölkerung Muslime sind, vorgespielt. Dabei geht es nicht ohne Krach und Tränen, Trost und Frieden spendenden fröhlichem Tanz und lustigem Tohuwabohu zu.Die Handkamera ist immer dabei, der Videoschirm am linken Bühnebrand flimmert andauernd. Ins Zentrum der Bühne rückt bald eine Pyramide aus Glaskugeln oder Tropfen, die immer wieder um- und ausgebaut wird, sich drehen und verschieben lässt und wächst, bis sie am Ende wie ein Tier, ein Schwan vielleicht oder ein gefährlicher Saurier mit langem Rüssel aussieht. Tiere gibt es tatsächlich jede Menge auf der Bühne, eine gurrende Taube, die auch ein Huhn sein könnte und zugleich ein Fuchs ist. Der Mann im bunten Federkleid spielt jedenfalls die Geige. Eine Krähe taucht hin und wieder auf, und zwei weiße Mäuse schleichen als Spione im Hintergrund herum. Victor Lauwers und Sarah Lutz als Artemisia Gentileschi. In Wien ist sie von Inge Van Bruystegem vertreten worden. Die gläsernen Objekte sind aus Hebron. „Mahmoud hat sie gemacht“, erzählt Lauwers in der Einleitung und nennt sie „total nutzlos.“ Doch die fertige Installation ist ein Kunstwerk, und dass sie Kunst nicht nutzlos ist, sondern uns im Gegenteil retten kann, ist auch Thema dieser zwei Stunden langen, jedoch keineswegs langweiligen, Vorstellung.
Die Liebe ist in der jungen Romy erblüht, als sie in China den israelischen Tänzer kennenlernt, der einst Elitesoldat in der Armee war. Sie bringt ihn nach Hause und Mutter Grace unterzieht ihn einem peinlichen Verhör: „Wie viele hast du getötet?“ Fantastischer Kopfschmuck dient dem Staunen und der Unterhaltung. Übrigens, der Darsteller Elik Niv ist tatsächlich Tänzer, war tatsächlich Soldat. Lauwers hat ihn 2014 kennengelernt. Die Familie gerät in Aufruhr, nicht nur wegen Elik. Mutter Grace geht auch ihre eigenen Wege, sie sucht sich über Tinder einen Partner, weil der Vater dem Sex abgeschworen hat. Blöderweise ist der Neue ein Freund der Familie. Da lässt sich der Betrogene zu einer Brüllorgie hinreißen, die nur durch den Höllentanz in Eliks Albträumen übertroffen wird.Im Laufe der 36 Jahre ihres Bestehens hat die Company ihre komödiantische, körperbetonte Bühnenpraxis nicht geändert, nur die zum Nachdenken angebotenen Themen werden härter und mutiger, und gleichzeitig durch Musik und buntes Treiben wieder gemildert. Mit bloßer Hand greift Lauwers in seinen Texten heiße Eisen an, zeigt, dass es in dieser, von den sozialen Medien beherrschen Zeit, keine Intimität, keine Scham mehr gibt. Die Livekamera ist immer dabei, leuchtet auch die Vagina von Romy aus, zeigt den Penis Eliks als HamAm Ende werden die Diskussionen körperlich fortgesetzt: Man bewegt sich im Kreis. pelmann und Malkunst aus Gestern und Vorgestern. Die Renaissancekünstlerin Artemisia Gentileschi tritt persönlich auf (Inge Bruystegem) und will ihre Vergewaltigung noch einmal durchspielen. Die Welt besteht aus Bildern, manche sind für die Ewigkeit.
Am Ende rennt die gesamte zehnköpfige „Familie“ im Kreis, unaufhörlich im Kreis. Im Epilog zeigt Vater Benoît Rogier van der Weydens Bild „Kreuzabnahme“: „Das sind die wahren Geschichten, die Geschichten, die in der Substanz des Gemäldes begraben sind“, erklärt er und fordert auf, darin „all das Gute“ zu sehen.

Jan Lauwers / Needcompany: „All the Good”
Text, Regie, Bühnenbild: Jan Lauwers. Musik: Maarten Seghers.
Mit: Grace Ellen Barkey, Romy Louise Lauwers, Victor Lauwers, Inge Van Bruystegem, Benoît Gob, Elik Niv, Jules Beckman, Simon Lenski, Maarten Seghers, George van Dam. 17. und 19. Juli 2022, Volkstheater im Rahmen von ImPulsTanz.
Fotos © Phil Deprez, Maarten Vanden Abeele.