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Karin Pauer: „We were never one”, Tanz im brut

"We were never one" Zwischen den Objekten: Anna Biczók.

Ausgehend von der Erkenntnis, dass der Mensch ein soziales Wesen ist und auch mit der Natur in einer Gemeinschaft lebt, baut Karin Pauer ihre Choreografie und bewegt sich mit der Tänzerin Anna Biczók und den beiden Tänzern Hugo Le Brigand und Arttu Palmio zwischen einer Installation aus bunten Steppdecken von Maureen Kaegi. „We were never one" („Wir waren niemals nur eines“) ist der Titel der verkörperten „Enzyklopädie des Jetzt“ mit Livemusik von Paolo Monti / the starpillow im brut nordwest.

"We were never one": Karin Pauer, Choreografin und Tänzerin.Noch ist die Stimmung im langgestreckten Raum des brut nordwest angenehm, Tänzerinnen und Tänzer liegen zwischen weichen Stoffballen und -rollen entspannt auf dem Boden, die letzten Gäste suchen sich zur leisen Musik (Elektronik und Live-Gitarre) ihren Platz an den Längswänden. Als Bühnenbegrenzung hängen zwei helle opake Rechtecke von der Decke, sie werden bald als Schrifttafeln gebraucht. Begriffe, die Pauer und dem Team im Kopf herumgehen, sind zu lesen. Sorgsam alphabetisch geordnet, erzählen sie von der Natur, schön und grausam, und vom Menschen, nachdenklich und ekelhaft, lebend mit der Natur und sie mutwillig zerstörend. Das einleitende sanfte Vogelgezwitscher verstummt bald, doch nach aufregenden 90 Minuten, wenn Tänzerinnen und Tänzer sich kaum sichtbar zwischen den inzwischen vom Plafond hängenden kuscheligen Decken bewegen, bis sie gänzlich verschwunden sind, wenn also der Deckel auf die Enzyklopädie gefallen ist, sind die Vögel wieder da. Niemand wird ungetröstet entlassen. Der Tänzer Arttu Palmio arbeitet nicht zum ersten Mal mit Karin Pauer zusammen. Paolo Monti lässt mit der Gitarre und elektronischer Unterstützung die letzte Klangwolke aufrauschen, vertreibt damit die grauen Wolken, der Himmel ist wieder blau. Niemand ist eine Insel. Das sagte der englische Schriftsteller John Donne bereits im 16. Jahrhundert: No man is an island, entire of itself; every man is a piece of the continent, a part of the main."
Karin Pauers Tanzsprache ist erdgebunden, geht von der Mitte aus und reicht bis in die Fingerspitzen, auch die Mimik gehört dazu. Nur wenn die Vier mit den Körpern Geschichten der Angst und des Schreckens, der Freude und der Hoffnung erzählen und die Tänzer:innen Erzähler:innen quer durch den Raum, hinaus und wieder herein laufen, heben sie die Füße vom Boden.
Anna Biczók, Hugo Le Brigand, Arttu Palmio in Bewegung mit Objekten.Die anfangs sanften Bewegungen steigern sich mit der Lautstärke der Klangwelt Montis. Die Körper erheben sich, bewegen sich, anfangs isoliert, jede(r) für sich, um sich im Lauf des Blätterns durch das Wörterbuch des Jetzt" einander immer näher zu kommen. Nicht immer verläuft diese Annäherung, das Erkennen des Du, friktionsfrei, doch auch gegenseitiges Helfen und Trösten, das gemeinsame Tragen der vielfach verwendeten weichen Stoffobjekte ist als Metapher zu sehen. Im Grunde jedoch ist diese Performance der so ausdrucksstarken Tänzerin wie klugen Choreografin, Karin Pauer, sowie der exzellenten, sich kaum schonenden Tänzer mitsamt der Budapester Tänzerin Anna Biczók tieftraurig.
Pauer und ihr Team verfallen jedoch nicht in die so gern geübte Praxis, zu moralisieren und zu manipulieren. Die Form, Präzision und körperliche Energie sind ihr genauso wichtig wie ihr Thema, das sie schon seit langem beschäftigt und im Zyklus „dances of the Anthropocene” seinen Niederschlag findet. Arme hochgereckt, Blick in den Himmel: Ist alles gut? (Le Brigand, Pauer, Palmio, Bisczók, Objekt von Kaegi)Wie sprechend diese vier Körper sind, zeigen sie immer wieder, wenn die prägnanten Bewegungen mit der Musik verschmelzen. Wird der Natur gedacht, sind sie nahezu entspannt, dröhnen Wolkenbrüche, kreischen die Sirenen, verzerren sich die Muskeln und Mienen auf der Bühne.
Neben dem Begriffsalphabet, das auch als Menetekel gelesen werden kann, schreibt Pauer auch ihre Gedanken an die Wand, tournee-geeignet auf Englisch. die Zeilen formen sich zu einem Gedicht. Da gibt es „Berge der Wut“ und „Wolken der Verweigerung“, „Bienen singen einander ein Schlaflied“ und „Dein Gehirn ist eine Wüste, Himmel in deinen Zellen. Wir waren niemals einzig“. Und alles, Text und Tanz, Stoff und Sound verschmilzt zu einer Performance, die man auch ohne Tiefsinn genießen oder mit eigenen Antworten auf den Zustand der Welt und die Rolle des Menschen darin anreichern kann.

Karin Pauer. „We Were Never One – an embodied encyclopedia of the now”.
Künstlerische Leitung / Kostüme: Karin Pauer. Künstlerische Assistenz: Arttu Palmio.Tanz und Choreografie: Anna Biczók, Arttu Palmio, Hugo Le Brigand, Karin Pauer.Objekte: Maureen Kaegi; Musik: Paolo Monti / the starpillow (Label: Dissipatio Records); Licht. Sveta Schwin. Premiere: 8. 4., Vorstellungen: 9., 12., 13., 14., 4. 2022, brut nordwest.
Fotos: © Franzi Kreis