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Begegnungen: „Lux Umbra“, Andrey Kaydanovskiy

Godwin Merano, Laura Cislaghi, Masayu Kimoto, Andrés Garcia Torres.

Der Ballettabend „Begegnungen“ besteht aus drei Choreografien, die unterschiedlicher nicht sein können. Eröffnet wird mit einer Choreografie von Alexei Ratmansky: „24 Préludes“ von Frédéric Chopin für Orchester bearbeitet von Jean Françaix, nach der ersten Pause folgt Andrey Kaydanovskiys jüngstes Werk: „Lux Umbra“ mit der Musik von Christof Dienz, eine Auftragskomposition. Auf die zweite Pause folgt ein großes Ensemble des Wiener Staatsballetts iund zeigt Martin Schläpfers jüngste  Choreografie „In Sonne verwandelt“ zu Ludwig van Beethovens Konzert für Klavier und Orchester Nr. 4. Ein anstrengender dreistündiger Abend.

"Lux Umbra": Der Gefangene im Keller (Masayu Kimoto) rennt gegen die Wand. Den tiefsten Eindruck hat bei der Premiere Kaydanovskiys Choreografie für 12 Tänzer:innen, eine Solistin und zwei Solisten hinterlassen. Vor allem, weil das Stück voller Rätsel steckt und die doppelte Uraufführung (Choreografie und Komposition) volle Aufmerksamkeit verlangt hat. Beim zweiten Mal mit neuer Besetzung der Solorollen kann ich dem Verlauf schon besser folgen, auch die Struktur der Musik, rhythmisch und harmonisch, der üblichen Besetzung des Volksopernorchesters hat Dienz ein Trio aus Trompete, E-Gitarre und E-Bass zugesellt, hilft. Zwischen Musik und Tanz findet tatsächlich die Begegnung statt, die im Titel des Dreiteilers angekündigt wird. Dienz hat Kaydanovskiys Wunsch nach einer eigenen, seine Choreografie begleitende Musik erfüllt, kein Werk geliefert, das auch für sich allein stehen kann, sondern neue Ballettmusik geschrieben. Es scheint, als kämen Musik und Tanz aus derselben Quelle und man sieht, wenn man hört und hört auch mit den Augen. Weibliche Derwische im schwingenden Rock: Sinthia Liz , Sveva Gargiulo.
Kaydanovskiy der in seinen Choreografien von Beginn an Geschichten erzählt hat, wollte diesmal ohne Handlung auskommen. Also gibt es auch keine zu erzählen, selbst wenn es einen strukturierten Ablauf gibt und ich sehr wohl eine kleine Geschichte zu erzählen hätte. Sie beginnt in einem finsteren Keller, einem Gefängnis oder, von mir aus, auch in der Höhle, die Platon als Gleichnis für die materielle, also unsere, Welt dient. Dort wartet ein Gefangener auf Veränderung, kann aber selbst nichts dafür tun, das Fenster ist zu weit oben, Türen gibt es keine. In der 4. Vorstellung der Serie ist Masayu Kimoto zum ersten Mal dieser Gefangene, seine Partnerin, Retterin oder Muse, ist Claudine Schoch, ebenfalls ihr Rollendebüt. Ich spinne weiter: Der einsame Gefangene gebiert in Fieberträumen unheimliche, teils kämpferische Gestalten, Männer und Frauen in befremdlichen Kostümen, die ihn umschwirren, sekkieren und bedrohen. Karoline Hogl ist jetzt zu nennen, sie hat originelle, mehrdeutige Kostüme geschaffen, die man so richtig erst ganz nahe der Bühne sitzend bewundern kann. Männer und Frauen tragen bronzefarbene, plissierte, knöchellange Röcke, die sich beim schnellen Drehen aufbauschen und zusammenfallen und die Tänzer:innen  rasende Derwische im Trancetanz versetzen. Der Höhlenbewohner (Kimoto) wird in den Rock gehüllt und hat zu kämpfen.
Nebenbei bemerkt: Es ist kein Sakrileg, wenn Kaydanovskiy auch Frauen tanzen lässt, es gibt auch weibliche Derwische. Wieweit Kaydanovskiy tatsächlich an Derwische gedacht hat, als er mit der Ausstatterin Karoline gesprochen hat, weiß ich nicht. Jedenfalls passen diese tanzenden Sufis in den Lauf der Geschichte, die es gar nicht gibt. Der Begriff Derwisch leitet sich aus dem Persischen her und bedeutet „Tor“ / „Tür“, und das ist es doch, was der Gefangene in der dunklen Höhle sucht. Wer jetzt noch nicht an Platon gedacht hat, wird mit den Augen draufgestoßen, wenn in geänderter Beleuchtung mit den männlichen und weiblichen Derwischen auch ihre Schatten an der Wand tanzen.
Übrigens, der zweite namentlich genannte Solist ist Lourenço Ferreira, was er zu tun hat, habe ich noch nicht geklärt, jedenfalls wirkt er in „Lux Umbra“ (Licht / Schatten) richtiger eingesetzt als im Ballett „Giselle“ als Partner im „Bauernpaar“. Begegnung: Claudine Schoch begegnet Lourenço Ferreira nicht gerade liebevoll.
Bevor sie vor Müdigkeit umfallen zeigen die „Derwische“, die vermutlich nur Traumerscheinunen sind, noch eine akrobatische Meisterleistung. In der rasanten Drehung rutschen die Rücke kreiselnd nach oben und fliegen hoch über die Köpfe, um die Körper zu verlassen. Die Tänzer stehen in knappen Hosen und rüstungsartigen Oberteilen aus Riemenwerk da; die Damen sind ebenso knapp bekleidet, tragen enge Mieder, aus denen die Strapse ragen, die die Strümpfe halten. Von Ferne entsteht der Eindruck nackter Plastikkörper. Auch Derwische werden müde, entledigen sich ihrer Röcke und zeigen schimmernde Haut.Und sie bewegen sich doch, verschwinden, lassen ihre leeren Hüllen zurück, die eingesammelt und abtransportiert werden. Bühnen- und Kostümbildnerin Karoline Hogl arbeitet seit seiner ersten großen Choreografie in der Volksoper, „Das Hässliche Entlein“, 2013, mit Kaydanovskiy zusammen, und ich meine, ihre Kostüme sind origineller und fantasievoller als alle Blumenröcke der von den Medien in den Himmel gehobenen Kostümbildnerin Susanne Bisovsky.
Mann und Frau (Masayu, Schoch) sind nun allein und es wird die Liebe sein, die die Wand zu Fall bringt, sodass das Paar nun draußen in der Welt steht, in der sie (so steht es bei Platon geschrieben) nicht sehen, weil die Sonne sie blendet. Bei Kaydanovskiy sind es die Stirnlampen seines Ensembles. Ob das Paar wieder in den Keller zurückkehrt, ob es der Sonne entgegen schwebt oder einfach anderen Menschen begegnet und sich an die neue (wirkliche?) Welt gewöhnt, erfahren wir nicht. Denn während ich noch in das gleißende Licht der Stirnlampen blinzle, sind die beiden verschwunden und der Applaus beginnt – mit Gequietsche und Geheule der in Mengen erschienenen jungen Zuschauer:innen. Wenn die Menschen keine Geschichte bekommen, dann machen sie sich selbst eine, es müssen nur die Intentionen des Choreografen / der Choreografin klar sein und seine / ihre Ideen klug geordnet.Debüt für Géraud Wielick in Ratmanskys Choreografie "24 Préludes".Ein paar Bemerkungen zum ersten Stück, „24 Préludes“ (Musik: Chopin / Françaix) erlaube ich mir auch noch.
Ratmanskys gestochen scharfe Miniaturen der vier Paare, die in unterschiedlicher Gruppierung – vom Solo, Duo, Trio bis alle acht mit und umeinander tanzen –, diese kristallklaren Szenen, die ein weites Spektrum an Gefühlen zeigen – Freude und Leid, Liebe und Eifersucht, Freundschaft und Konkurrenz, Harmonie und Streit, Zärtlichkeit und Gewalt – lassen die acht Protagonist:innen wie unter dem Mikroskop tanzen.  Arne Vandervelde, Ionna Avraam, Marcos Menha, Alexey Popov: großes Griss um die Ballerina.Die Diskrepanz zwischen den Beteiligten ist nicht zu verbergen. So unterschiedlich ihre Trainings- und Auftrittsgeschichte ist, so unterschiedlich sind die Bewegungs- und Ausdrucksmöglichkeiten. Dennoch verdienen es die Beteiligten, namentlich genannt zu werden, zumal zwei Rollendebüts zu sehen (und zu tanzen) waren. Die Reihung auf dem Besetzungszettel: Rebecca Horner / Marcos Menha, Ioanna Avraam (Debüt) / Arne Vandervelde, Aleksandra Liashenko / Géraud Wielick (Debüt), Liudmila Konovalova / Alexey Popov. Auch wenn die 24 orchestrierten Préludes mehr als 40 Minuten dauern, zeigt sich das Publikum begeistert und applaudiert heftig. Den Abschluss des Abends bildet das Ensemble des Wiener Staatsballetts in Martin Schläpfers neuer Choreografie „In Sonne verwandelt“ auf ziemlich düsterer Bühne. Auch das Sonnenzeichen, in verschiedenen, aus Asien nach Europa geflutschten Turnübungen verwendet, das die Tänzer:innen im Finale zeigen, erhellt mir nichts.

„Begegnungen":  Choreografien von Andrei Ratmansky, Andrey Kaydanovskiy, Martin Schläpfer. 4. Aufführung.
Mein Besuch galt vor allem Andrey Kaydanovskiys Chroeografie "Lux Umbra" zur Musik von Christof Dienz, eine Auftragskomposition. Rollendebüt von Masayu Kimoto und Claudine Schoch. Mitwirkend: Lourenço Ferreira; Marie Breuilles, Laura Cislaghi, Edward Cooper, Andrés Garcia Torres, Sveva Gargiulo, François-Eloi Lavignac, Sinthia Liz, Anita Manolova, Godwin Merano, Franciska Nagy, Duccio Tariello, Andrey Teterin. .
Bühne und Kostüme Karoline Hogl, Licht Christian Kass. Dirigent: Gerrit Prießnitz.  Wiener Staatsballett in der Volksoper, 22.2.2022
Fotos: Ashely Taylor. © Wiener Staatsballett / Ashley Taylor