"Giselle" mit Rollendebüt für Elena Bottaro
Mit Schwung erscheint Denys Cherevychko als Herzog Albrecht auf der Bühne und leitet damit einen großartigen Abend ein, der ganz der in der Ballettschule der Mailänder Scala ausgebildeten Solotänzerin Elena Bottaro gehört. Mit ihrem Rollendebüt als Giselle bezaubert sie das Publikum und verführt auch den Dirigenten, Jendrik Springer, ihren sanften Bewegungen willenlos zu folgen. Diese 88. Aufführung des romantischen Balletts in der Choreografie von Elena Tschernischowa am 20. Februar gerät mit perfekten Blumenwürfen und jubelnden Kolleg:innen zum Fest.
Bottaro, die mit ihren weichen, doch präzisen Bewegungen immer wieder begeistert, ist eine neue Giselle, anders als gewohnt. Klar, im ersten Akt kann sie auch neckisch und (ein wenig) verliebt sein, doch in Wahrheit gehört ihr „schwaches Herz“, sagt die Mutter, dem Tanz, und so wirbelt sie im Kreis der Dorfjugend beiderlei Geschlechts zentimeterhoch über dem Boden. Die Fröhlichkeit, die in diesem ersten Akt musikalisch wie tänzerisch herrscht, ist gedämpft durch Tschernischowas Idee, das Fest mit der Krönung Giselles zur Winzerkönigin und dem Besuch der Jagdgesellschaft in einer trüben, grauen Landschaft stattfinden zu lassen. Einzig das knallrote Samtkleid der Bathilde, die dem in Giselle verlieben Albrecht bereits versprochen ist, leuchtet unangenehm heraus. Bathilde (Claudine Schoch) kann nichts dafür, dass sie nicht sympathisch ist, von Albrechts Eskapade muss sie auch schockiert sein. Bottaro zeigt auch im übermütigen Tanzen, dass sie nicht mehr lange auf dieser Welt sein wird, auch im Springen und Queren der Bühne auf einem Fuß ist sie zerbrechlich, fast durchsichtig.
Noch deutlicher wird das Schweben über dem Boden im 2. Akt, da darf sie wirklich reine Seele sein, ein geisterhaftes Wesen, das weder liebt noch hasst. Bottaro erinnert mich in ihrer Darstellung als Wili an die Deutung von Mats Ek: Sie kann um das Leben Albrechts tanzen, tanzen, tanzen, weil er sie nicht mehr interessiert. Wunderbar passt sich Dirigent Jendrik Springer ihrer verzögerten Arabesque in ihrem ersten Auftritt vor Myrtha, der Königin der Wilis (Gala Jovanovic), an. Bottaro tanzt von innen heraus und weiß doch genau, was sie tut. Damit kein Irrtum entsteht: Als Swanilda in „Coppélia“ (Volksoper, 2019 / 2020) und in nahezu sämtlichen anderen weiblichen Rollen der choreografischen Version von Pierre Lacotte, hat sie gezeigt, dass sie sehr wohl von dieser Welt ist, aber immense Freude am Tanzen hat. Diese Tanzfreude verbindet sie mit Giselle, auch wenn diese, wie alle Wilis, eher an der Tanzwut leidet.
Freudig strahlt auch Denys Cherevychko (nicht nur) als Herzog Albrecht, wenn er springen darf. Punktgenau sind seine Landungen und er reißt das Publikum mit seinen Entrechats Six im 2. Akt zu Applausstürmen hin. Jetzt muss der Dirigent zulegen, das Orchester lauter, schneller werden, es scheint, als hätte Albrecht ein Taumel ergriffen und kann gar nicht mehr aufhören. Aber Cherevychko kann, setzt exakt auf und empfängt glücklich den verdienten Applaus. Ob es wirklich die gewünschten 30 waren, weiß ich nicht zu sagen, wer kann denn mitzählen, wenn vor Staunen der Mund offen bleibt und das Gehirn aussetzt! Dann kickt Cherevychko auch noch die von Giselles Geist zugeworfene Lilie mit dem Fuß zu sich – und hat gewonnen. Bottaro macht ihrem Partner die Hebungen leicht, sie schwebt förmlich über seinen Armen, tatsächlich nur der Geist eines einst so lebendigen Mädchens. Bottaros Port de bras, ihre Arabesques und Attitudes: pure Romantik, pure Präzision. Ihr Spiel: im 1. Akt natürlich, fließend geht sie von Tanz in Pantomime und wieder zum Tanz über; im 2. Akt: feenhaft.
Auch Natalya Butchko und Aleksandra Liashenko durften ihr Debüt als Solo-Wilis, Moyna und Zulma, feiern. Apart ist die hell-dunkel Kombination: Die Amerikanerin Butchko ist groß und dunkelhaarig, Liashenko, in der Ukraine geboren, ist eine zarte Blonde. Butchko, die schon mit 18 nach ihrem Abschluss 2016 an der Ballettakademie in Wien in die Compagnie aufgenommen worden ist, tanzt im Corps de Ballet; Liashenko, vielfach preisgekrönt und auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, ist seit der vergangenen Saison als Solotänzerin im Wiener Staatsballett engagiert.
Auch in dieser Vorstellung ist die perfekte Einstudierung festzustellen. Das Ensemble zeigt sich aus einem Guss und bezaubert sowohl als irdische Dorfgesellschaft wie als himmlische Geisterschar. Wenn zwei Gruppen von je zwölf Tänzerinnen im weißen Tutu auf einem Bein wippen und dann auf einander zu gleiten, vergesse ich zu atmen.
Einmal noch, am 23. Februar, ist diese nahezu perfekte Wiederaufnahme der seit 1993 im Repertoire des Staatsballetts gehüteten Choreografie von Elena Tschernischova zu sehen.
Danach lädt das Wiener Staatsballett im März zu vier Aufführungen von Rudolf Nurejews Wiener Choreografie des Balletts „Schwanensee“ ein. In manchen Kategorien sind „nur noch 3“ Plätze frei!
„Giselle“, fantastisches Ballett in zwei Akten. Musik von Adolphe Adam, Chronografie und Inszenierung Elena Tschernischova nach Jean Coralli, Jules Perrot, Marius Petipa. Musikalische Leitung. Jendrik Springer. Einstudierung Brigitte Stadler, Lukas Gaudernak, Jean Christoph Lesage, Alice Necsea. 88. Aufführung, 20. Februar 2022. Staatsopern Orchester und Wiener Staatsballett in der Staatsoper.
Letzte Vorstellung in dieser Saison: 23.2.2022.
Fotografiert hat Ashley Taylor. © Wiener Staatsballett / Ashley Taylor