Ratmansky, Kaydanovskiy, Schläpfer: Ballettabend
Zwei Uraufführungen und eine eigens für das Wiener Staatsballett erdachte Neueinstudierung einer Choreografie sind unter dem Allerweltsbegriff „Begegnungen“ zu einem dreiteiligen Ballettabend zusammengefasst. Getanzt hat das Wiener Staatsballett in der Volksoper. Alexei Ratmansky hat seine 2013 für das Royal Ballet geschaffene Choreografie „24 Préludes“ (von Frédéric Chopin) für Wien adaptiert; Martin Schläpfer lässt ein großes Ensemble zu Ludwig van Beethovens Konzert für Klavier und Orchester Nr. 4 G-Dur tanzen und dazwischen ist ein neues Werk von Andrey Kaydanovskiy eingeklemmt: „Lux Umbra“ zur Komposition von Christof Dienz. Gerrit Prießnitz dirigiert das Orchester der Wiener Volksoper.
„In Sonne verwandelt“ nennt Choreograf und Ballettdirektor Martin Schläpfer seine neueste Choreografie. Sonnig ist dieses Tanzstück zu Beethovens 4. Klavierkonzert, dessen Titel einem symbolistisch-romantischen Gedicht des spanischen Lyrikers Juan Ramón Jimenéz (1881-1958, Nobelpreis für Literatur 1956) entlehnt ist, allerdings nicht. Dumpf klingt das Klavier aus dem Orchestergraben, der junge finnische Pianist, Johannes Piirto, ist nicht zu sehen, das Legato im 2. Satz (Andante) ist nicht zu hören, wenn die Finger des Pianisten über die Tasten laufen, zappeln die Tänzer: innen mit den Füßen.
Marcus Spyros Bertermann hat zwei bronzefarbene Trümmer auf die Bühne gelegt, eine klobige Installation ruht im Hintergrund, vorne links liegt ein Balken. Das fahle Licht kümmert sich nicht um die Objekte, kann auch gegen die schwarzen Kostüme von Hélène Vergnes nicht gewinnen. Einen kurzen Lichtblick schenkt die Erste Solotänzerin Hyo-Jung Kang, sie darf hell gekleidet sein und tanzt so schön, dass auch Beethoven seine Freude gehabt hätte.
Große Choreografen, von Béjart über van Manen bis Neumeier, haben zu Beethovens Musik choreografiert. Die Klavierkonzerte und das Violinkonzert bleiben für sich stehen. Ein Konzert für Orchester und Soloinstrument erfordert ganze Aufmerksamkeit, die geht dem Tanz ab. Oder umgekehrt, sind die Augen in voller Konzentration auf die Bühne gerichtet, plätschert das was unten im Graben geschieht, so nebenbei daher. Tanz in Konkurrenz zur Musik kann nicht funktionieren, beide gehen unter. Am Ende heben die Tänzer:innen die Arme über den Kopf, zeigen, wie schon nach dem ersten Satz, eine Yoga-Figur aus der Übung „Sonnengruß“. Schließlich muss dem Titel dieser Uraufführung irgendwie Gerechtigkeit widerfahren.
Alexei Ratmansky hat sich beim Wiener Staatsballett in dieser Saison bereits mit der Choreografie „Bilder einer Ausstellung“ vorgestellt. Für dieses Ballett hat er bewusst die Originalmusik gleichen Titels von Modest Mussorgsky für Piano solo gewählt und auf die bekanntere pastose Orchestrierung Maurice Ravels verzichtet. Für „24 Préludes“ von Chopin geht er den umgekehrten Weg, er lässt zur Orchestrierung des Klavierzyklus durch Jean Françaix (1912–1997) tanzen. Schade. Françaix hat Chopin alles genommen, was den Komponisten auszeichnet, das Zarte, Flüchtige und Fließende. Françaix hat eine Vorliebe für die Bläsersektion und lässt diese auch in den 24 Préludes ordentlich brummen und trompeten, als donnerte eine Herde Elefanten durch die Savanne. Im Gespräch mit Nastasja Fischer meint der Choreograf, er empfinde die Musik „als intelligent, witzig, theatral, zeitgemäß“ (Programmbuch). Sei’s drum, die vier Tanzpaare – Rebecca Horner / Marco Menha, Maria Yakovleva / Arne Vandervelde, Aleksandra Liashenko / Denys Cherevychko, Liudmila Konovalova / Alexey Popov – tanzen 24 kleine Szenen, allein, zu zweit, im Dreieck, die sämtliche Gefühle einer Beziehungskiste widerspiegeln. Nicht nur der Choreograf Jerome Robbins hat ein Faible für Chopin gehabt, auch viele andere Choreografen haben sich seiner Musik bedient. Ratmansky kennt sie alle und zitiert sie auch in seinen Miniaturen. Mit der Uraufführung 2013 in London war er neun Jahre danach nicht mehr zufrieden, so hat er für Wien eine veränderte Version geschaffen und den Designer Keso Dekker um neue Kostüme gebeten.
Die sind dem erfahrenen Kostümbildner glänzend gelungen und bringen Abwechslung ins Geschehen, weil sich Tänzerinnen und Tänzer zwei Mal umziehen, die ihnen zugeteilten erdig schimmernden Farben bleiben erhalten. Bald kenne ich mich nicht mehr aus in dem Gefühlswirrwarr zur groben Begleitmusik, doch die acht Tänzer:innen bewegen sich elastisch und mit Elan, werfen abwechselnd Arme und Beine in die Höhe, lieben einander und streiten miteinander. Marcos Menha scheint in Ratmansky den richtigen Choreografen und in Rebecca Horner die richtige Partnerin gefunden zu haben, er wirkt kräftiger und munterer als je zuvor. Nach all den Paar- Dreiecks- und Single-Geschichten zur teils richtig wilden Musik schwirrt mir der Kopf, 24 intensive Beziehungen sind einfach zu viele. Ratmanskys Ballettsprache, mit deutlichen Rekursen auf die klassische Schule, ist kein Schonprogramm für die Tänzer.innen, die Anstrengung spüre ich nicht in den Gliedmaßen, aber im Kopf.
Das zwischen „24 Préludes“ und „In Sonne verwandelt“ eingezwickte Stück „Lux Umbra“ von Andrey Kaydanovskiy hat seinen Titel erst spät erhalten, doch nun teilt der Choreograf mit, es ihm um Licht (und) Schatten geht. Also das Licht leuchtet schwach durch ein Fenster, das hoch oben in einer schrägen Wand den Blick auf ziehende Wolken und Nebelfetzen freigibt. Unten rennt ein einsamer Mann gegen die Kerkerwand und träumt von märchenhaften Figuren, die ihn heimsuchen. Zwölf Tänzer:innen sind von der genialen Karoline Hogl in goldene Plisseeröcke gekleidet, die von selbst zu tanzen beginnen, über den Kopf gehoben werden (bin ich froh, dass die Tanzenden auch Unterwäsche tragen) und schließlich auch zu Boden rutschen, sodass die geheimnisvolle Gruppe nahezu nackt da steht. Der Gefangene (Marcos Menha) hat eine Retterin (Rebecca Horner), die erst im Laufe der Geschichte sichtbar wird. Obwohl, Geschichte gibt es keine, Kaydanovskiy, der bisher narrativen Balletten mit dem ihm eigenen Humor den Vorzug gegeben hat, hat für diese neue Kreation, nicht die erste für das Wiener Staatsballett, von seinem Credo abgeschworen, ist nicht von einer Geschichte ausgegangen, sondern von Musik. Für diese hat er dem österreichischen Komponisten Christof Dienz den Auftrag erteilt und so ist für „Lux Umbra“ echte Ballettmusik entstanden. Man muss dieses Werk Kaydanovskiys sicher mehrmals sehen, um sich in die Musik von Dienz einzuhören. Dann kann man auch den Tanz genießen, der, auch wenn es keine nacherzählbare Geschichte gibt, doch einiges an Assoziationen zu bieten hat. Irgendwann, wenn die wilden Tänzer der geisterhaften Figuren mit und ohne Röcke zu Ende sind, stürzt die schiefe Wand ein, das Paar (Horner / Menha) tritt hinaus und steht mitten in einem verdorrten Feld. Aha, draußen ist es nicht besser als drinnen. Beim nächsten Mal weiß ich auch, was Lourenço Ferreira, der ebenfalls als Solist auf dem Programmzettel zu finden ist, für eine Rolle spielt.
So leer wie mein Herz und so voll wie mein Kopf am Ende des langen Abends ist, weiß ich jedenfalls, dass die Zusammenstellung dieses Abends kein Hattrick ist, wobei die Länge wohl das geringste Übel ist.
„Begegnungen“, Choreografien von Alexei Ratmansky, Andrey Kaydanovskiy, Martin Schläpfer. Musikalische Leitung: Gerrit Prießnitz Orchester der Volksoper.
Premiere: 2. Februar 2022, Wiener Staatsballett in der Volksoper. Weitere Vorstellungstermine: 7., 12., 22., 27. Februar, 4., 9., 15. März 2022
„24 Préludes“, Musik 24 Préludes von Frédéric Chopin für Orchester bearbeitet von Jean Françaix. Chorografie Alexei Ratmansky;
Kostüme Keso Dekker; Licht Wolfgang Könnyü; Einstudierung Amanda Eyles.
Tänzer:innen: Rebecca Horner mit Marco Menha; Maria Yakovleva und Arne Vandervelde; Aleksandra Liashenko mit Denys Cherevychko; Liudmila Konovalova mit Alexey Popov.
„Lux Umbra“, Uraufführung / Auftragskomposition von Christof Dienz. Choreografie Andrey Kaydanovskiy; Bühne & Kostüme Karoline Hogl; Licht Christian Kass; Ballettmeisterin: Louisa Rachedi. Mit Marcos Menha, Rebecca Horner, Lourenço Ferreira und einem Ensemble aus 12 Tänzer:innen
„In Sonne verwandelt“, Uraufführung. Musik Ludwig van Beethoven. Choreografie: Martin Schläpfer. Bühnenbild Marcus Spyros Bertermann; Kostüme Hélène Vergnes; Licht Stefan Bolliger: Klavier Johannes Piirto.
Fotos: Ashley Taylor. © Wiener Staatsballett / Ashley Taylor ; © Wiener Staatsballett / Michael Pöhn