John Neumeier: „Beethoven-Projekt II“
Nach seiner abendfüllenden Choreografie „Beethoven-Projekt“, 2018, wollte John Neumeier mit seinem Hamburg Ballett auch zum Beethovenjahr 2020 etwas beitragen. Doch das bekannte Virus machte all seine Pläne zunichte, keine öffentlichen Konzerte, kein Ballett zum 250. Geburtstag. Sieben verschobene Premierentermine mussten die Tänze des Hamburg Ballett und der Chef, John Neumeier, durchtauchen, bis „Beethoven-Projekt II“, endlich im heurigen Mai in Hamburg uraufgeführt werden konnte. Zum Beginn der neuen Saison begeisterte das Hamburg Ballett jetzt auch das Publikum im ausverkauften Theater an der Wien.
Neumeier und sein überragendes Ensemble waren übrigens bereits zum elften Mal im Theater an der Wien zu Gast. „Beethoven-Projekt II“ war auch in Wien in Besetzung der Uraufführung zu sehen. Aleix Martínez, Hélène Bouchet, Anna Laudere, Jacopo Bellussi – sie alle und ihre Kollegen haben bereits in „Beethoven-Projekt“ (uraufgeführt 2018, noch ohne Nummerierung) das Hamburger Publikum zu Jubelrufen hingerissen. Herausragend Aleix Martínez, der Beethoven in allen Lebensphasen verkörpert und Liebe und Leid des Künstlers beeindruckend spürbar macht. Das Gastspiel entpuppt sich als perfektes Entree für die Ballettsaison 2021/22.
„Meine Seele ist erschüttert“, den Halbsatz aus der Tenorarie in Beethovens Oratorium „Christus am Ölberge“ hat John Neumeier als Dekoration zum kühlen Titel „Beethoven-Projekt II“ gewählt. Gefallen hat er sich damit keinen getan. Wieder einmal ist er in die Pathosfalle gerutscht. Franz Xaver Hubers Libretto zum 1803 entstandenen Chorwerk, aus dem Neumeier Klaus Florian Vogt die Arie des Christus singen lässt, ist mit schwülstig noch freundlich charakterisiert. Nicht verwunderlich, dass Beethovens Komposition nach der Uraufführung im Theater an der Wien nicht gerade mit Lob überhäuft worden ist. Hubers Erguss, unter Verzicht auf die Musik als reinen Text betrachtet, wirkt direkt auf die Lachmuskulatur:
Meine Seele ist erschüttert von den Quallen die mir dräu’n; Schrecken fasst mich, und es zittert grässlich schaudernd mein Gebein. Wie ein Fieberfrost ergreifet mich die Angst beim nahen Grab, und von meinem Antlitz träufet, statt des Schweisses, Blut herab, Vater! Tief gebeugt und kläglich fleht dein Sohn hinauf zu dir! Deiner Macht ist Alles möglich; nimm den Leidenskelch von mir! (Die originale Rechtschreibung wurde beibehalten)
Der meisterhafte Geschichtenerzähler Neumeier verzichtet in seinen beiden Beethoven-Projekten auf eine nacherzählbare Handlung, verteilt auch keine Rollen, lediglich die zentrale Figur, der Künstler und Mensch Beethoven, ist mit Aleix Martínez eindeutig identifizierbar. Die Choreografie orientiert sich kaum an der Biografie Beethovens, doch wählt Neumeier für den ersten Teil drei Kompositionen, die zur Zeit entstanden sind, als Beethoven in Heiligenstadt (1803 noch kein Bezirk von Wien) zur Kur geweilt und das berühmt gewordene „Testament“ verfasst hat. Umrahmt von der bereits genannten Arie aus „Christus am Ölberge“ sind zwei Sonaten zu hören: Für Klavier und Violine Nr. 7 c-Moll (interpretiert von Hanni Liang und Anton Barakhovsky) und die Waldsteinsonate, Klaviersonate Nr. 21 C-Dur (am Piano Hanni Liang). In „Beethoven-Projekt I“ (die Nummer I ist zur Unterscheidung hinzugefügt) lässt Neumeier vor allem den jungen, noch unsicheren Beethoven tanzen. Auch diese Choreografie ist zweigeteilt, im zweiten Teil tanzt das Ensemble zur 3. Symphonie Beethovens, der „Eroica“. In „Projekt II“ ist Beethoven erwachsen, auch erfolgreich, doch bereits mit seiner beginnenden Taubheit beschäftigt. Immer wieder greift sich Martínez an die Ohren, flieht die fröhliche Champagner-Gesellschaft, klammert sich Rettung suchend ans Klavier.
Neumeier lässt seine Hauptfigur Sehnsucht nach Gemeinsamkeit und gewünschte, zugleich quälende Einsamkeit, Lebensfreude und Liebesleid sowie den gesamten schwierigen Balanceakt eines Künstlerlebens nachempfinden und erinnert zugleich, dass auch er, John Neumeier, ein Jongleur zwischen Kunst und Leben ist. Die pandemiebedingten Einschränkungen, fast als Liebesverbot erfahren, haben auch das Beethoven-Projekt geprägt.
Erstaunlich ist, wie stringent Neumeiers Vorstellung vom Genie Ludwig van Beethoven und was er darüber erzählen will, ist. Die zentrale Figur, Ludwig van, ist in beiden Projekten dieselbe, es gibt keine Brüche.
Neumeiers ewiges Thema – wie besteht der Künstler in der banalen Welt? – ist stets präsent.
Dieser erste Teil ist von großartigen Pas de deux geprägt, die mit überraschenden Verschlingen und gewagten Hebungen imponieren. Als unsterbliche Geliebte und auch stellvertretend für alle angebeteten Frauen ist Hélène Bouchet Martínez Partnerin. Die fröhliche Gesellschaft, in der Beethoven wohlgelitten, doch einsam ist, wird von Madoka Sugai und Nicolas Gläsmann angeführt. Sie trägt das gleiche grüne Kleid wie die Pianistin Hanni Liang, um die beiden Solisten, die am Rand der Bühne Beethovens Sonaten interpretieren, ins Tanzensemble einzubinden. Immer wieder kommunizieren auch die Tänzer mit der Pianistin und dem Geiger. Die Musik ist nicht den Tanz unterstützendes Beiwerk, sondern integrierter Teil des Balletts. Musik und Tanz werden zu einer Einheit. Im zweien Teil, zur 7. Symphonie von Beethoven ist das noch deutlicher spürbar. In Jeans und schwarzem T-Shirt bewegt sich Beethoven zwischen Sehnsucht nach Gesellschaft und Zuneigung und dem Wunsch nach Isolation. Die Damen umschwärmen ihn, doch keine bleibt, auch Bouchet entwindet sich immer der Umarmung von Martínez, wendet sich einem anderen zu. Die zunehmende Taubheit macht jedoch Beethovens Versuche, an Lustbarkeit und Liebe teilzunehmen, immer schwieriger. Die Qualen des Komponisten, der seine eigenen Werke nicht mehr hören kann, tun auch im Zuschauen körperlich weh. Die Einsamkeit die Beethoven umgibt, selbst dann, wenn er sich vervielfacht (17 Beethoven sind zusätzlich auf der Bühne), ist die Einsamkeit des Künstlers ein wiederkehrendes Thema von Neumeier. Ob Gustav Aschenbach, Waslaw Nijinskiy, Ludwig II. oder sämtliche Figuren in „Die Möwe“, immer geht es um den Zwiespalt zwischen Kunst und Leben, zwischen Liebe und Kunst.
Bühnenarchitekt Heinrich Tröger teilt die Bühne in zwei Ebenen, wobei die obere Ebene, mit einem weiteren Piano ausgestattet, im ersten Teil Martínez und dem beigegebenen Begleiter, Schutzengel, Tröster oder Schatten vorbehalten ist. Dieser Begleiter, vielleicht auch ein Liebhaber, den Neumeier nahezu allen seinen zentralen Figuren zur Seite stellt, ist Jacopo Bellussi, ein hinreißend schöner, mit nacktem Oberkörper tanzender Engel. Kostümbildner Albert Kriemler hat vor allem für die Damen raffinierte durchscheinende Kostüme entworfen, anfangs ist das weibliche Ensemble in schwarze Schleier gekleidet, die Solistinnen tragen bunte Roben. Im zweiten Teil sind die Qualen des unglücklichen Komponisten vergessen, das Damenensemble ist in strahlendes Weiß gekleidet, die Herren tragen schimmernde dunkle Röcke, darüber spielen die Muskel unter nackter Haut.
Mit Beethovens Symphonie Nr. 7 A-Dur werden Kummer und Harm und auch Neumeiers unvermeidliche Griffe in den Pathosspender hinweggetanzt. Man hört das Ensemble laut rufen: Endlich dürfen wir wieder tanzen, endlich uns an den Händen halten und im Kreis drehen, laufen, springen, uns umschlingen und umarmen. Das gesamte Ensemble ist infiziert, allen voran das Paar Ida Stempelmann (eine Gruppentänzerin, erst seit der vergangenen Saison Ensemblemitglied) und Atte Kilpinen (seit 2020 im Hamburg Ballett, Solist seit 2021), zwei junge Menschen, deren energiegeladene Tanzfreude und Fröhlichkeit ansteckend wirken.
Was Tanz ist, zeigt das Ensemble zu den einprägsamen Rhythmen der 7. Symphonie, die Richard Wagner als „Apotheose des Tanzes“ bezeichnet hat. Tanz ist Trost und Freude, Liebe und Lebenslust, Freundschaft und Gemeinschaft. Tanz ist Raserei. Die gegen Ende auch Beethoven erfasst, der in diesem zweiten Teil eher als Zuschauer, erstaunt, missmutig, auch fröhlich, eine Nebenrolle spielt. Erst gegen Schluss mischt er sich ein ins fröhliche Treiben, tanzt in den Armen seines Beschützers über das Ende der Musik hinaus. Auch als das ebenfalls vom Tanzvirus infizierte Publikum in eine Applaus-Raserei verfällt, drehen sich Bellussi und Martínez unaufhörlich im Kreis, bis der Vorhang sie den Blicken entzieht. Wie oft er wieder hochgeht, damit das Ensemble, Dirigent Constantin Trinks, das Wiener KammerOrchester und sämtliche Solisten und natürlich Choreograf John Neumeier persönlich die stürmischen Ovationen samt unpassendem Wolfsgeheul entgegennehmen können, ist nicht zu zählen. Das Publikum im ausverkauften Theater an der Wien ist sich hörbar einig: Mit dem „Beethoven-Projekt II“ hat Neumeier samt dem Hamburg Ballett ein Meisterwerk geschaffen.
„Meine Seele ist erschüttert – Beethoven-Projekt II". Ballett von John Neumeier, Musik von Ludwig van Beethoven. Choreografie & Lichtkonzept. John Neumeier.
Musikalische Leitung: Constantin Trinks. Bühnenbild: Heinrich Tröger; Kostüme Albert Kriemler – A.K.R.I.S –. Christus (Tenor): Klaus Florian Vogt; Violine Anton Barakhovsky; Klavier: Hanni Liang. Wiener KammerOrchester. Gastspiel des Hamburg Ballett 28. und 29. August, Theater an der Wien. Eine Kooperation zwischen Hamburg Ballett John Neumeier und Theater an der Wien.
Probenfos: © Kiran West