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Michikazu Matsune: „Mitsouko & Mitsuko“

Michikazu Matsune mit seinen personifizierten Assoziationen.

Einer der vergnüglichsten Abende bei den Wiener Festwochen 2021 ist die Performance „Misouko & Mitsuko“ von und mit Michikazu Matsune. Was nicht heißt, dass es Matsune nicht ernst meint mit den verschlungenen Linien und fantastischen Assoziationen zwischen Asien, wo er im japanischen Kobe geboren worden ist, und den europäischen Städten Wien und Paris. Doch Matsune, der Japaner in Wien – seit gut 30 Jahren, Indoktriniert und manipuliert sein Publikum nicht. Er unterhält es und überlässt es jeder und jedem Einzelnen, sich die nötigen und richtigen Gedanken zu machen.

Alles hat mit dem Duft eines hundertjährigen Parfums begonnen: Mitsouko von Guerlain kann man auch heute noch kaufen. Klar, dass, wie bei allen Expatriierten, der Themenkreis von Identität, kultureller Zuschreibung und der Spagat zwischen altem und neuem Heimatland im Vordergrund steht. Bei Michikazu Matsune manchmal verdeckt und machnmal auch, wie in der aktuellen Performane, offensichtlich. Letztlich läuft es immer auf die gleiche Frage – Wer bin ich? – hinaus. Doch, um sich diese Frage zu beantworten, muss man nicht durch sämtliche Meere schwimmen und auf einem fremden Kontinent landen.
Ausgangspunkt einer intensiven Recherche und der Erzählung auf der Bühne ist ein Name, der wie ein japanischer Frauenname klingt und 1919 in Paris von Jacques Guerlain, dem Enkelsohn des Konzerngründers, Pierre-François Pascal Guerlain, für eine Parfümkreation gewählt worden ist: Mitsouko. Michikazu Matsune hat den Duft gerochen und den Roman gelesen. Er weiß jetzt (fast) alles über Mitsouko. Zumindest macht er das dem Publikum weis.   Erfunden hat Jacques den Namen nicht, das hat der französische Autor Claude Farrère getan, als er 1909 nach einem Namen der weiblichen Hauptperson in seinem Roman „La Bataille“ (Deutsch: „Die Marquise Yorisaka“) gesucht hat. Es ist natürlich eine orientalisch-occidentale Liebesgeschichte, was zu Beginn des 20. Jahrhunderts, bei aller Japonismus-Euphorie, nicht gern gesehen worden ist. Farrère (1876–1957), überaus fleißig und auch preisgekrönt, ist heute total vergessen, und er ist nicht der einzige, einst bejubelte und später dem kollektiven Gedächtnis entschwundene, Star. Matsune lässt auch eine Reihe anderer vergessener Größen, etwa die japanische Schauspielerin Tsuru Aoki und ihren Partner im Leben und vor der Kamera, Sessue Hayakawa, auftreten, die als Exoten in Hollywood verehrt und zugleich als „Gelbe Gefahr“ mit dem Tod bedroht worden sind. Leinwandgrößen wie Ingrid Bergman oder Charly Chaplin sind (noch) nicht vergessen, Das Familiengrab der Coudenhove-Kalergis im Hietzinger Friedhof. Auch Mitsukos Leichnam ist hier begraben. © paerpgril / widepedia  und Michikazu Matsune findet allerlei Verbindungen zum Mitsouko-Fieber, womit das Parfüm gemeint ist, Mitsuko, die reale Japanerin, die 1892 einen Europäer, genauer: einen Wiener, geheiratet und die Heimat verlassen hat, um, anfangs mit Mann und sieben Kindern in Böhmen, später ohne Mann in Wien zu leben. Sie ist 1941 in Mödling gestorben und im Familiengrab der Coudenhove-Kalergis beigesetzt worden.
Die Liebesheirat war ungewöhnlich, doch keine Fiktion. Als Heinrich Johann Maria Graf Coudenhove-Kalergi mit seiner jungen Frau Mitsuko durch den Tod seines Vaters gezwungen war, wieder nach Europa zurückzukehren, hat sich das Paar ausgerechnet in Kobe, dem Geburtsort Michikazu Matsunes, eingeschifft. Er selbst aber ist natürlich mit dem Flugzeug gekommen. Einer Illusion von Europa ist er entgegengeflogen, die sehr bald in Staub zerfallen ist. Wie der Duft von Mitsouko, den man übrigens auch heute noch riechen (und kaufen) kann.
Die Vergangenheit, samt Ingrid Bergman im Vordergrund und Jean Harlow dahinter, geht in Rauch auf. Möglich, dass sich auch der erfolgreiche Entrepreneur Sergej Diaghilev mit Mitsouko eingesprüht hat, jedenfalls erzählt Matsune, dass der Liebhaber des größten Tänzers aller Zeiten, Vaclav Nijinksiy, den Bühnenvorhang parfümiert hat, damit der Duft sich beim Öffnen im Zuschauerraum verteilte. Flugs erinnert sich Matsune, dass er als Tänzer begonnen hat und schlüpft als Faun in die Rolle Nijinskys, bleibt aber ganz Matsune. Auch später, wenn er die Burgschauspielerin Ida Roland lebendig werden lässt, versucht er sich nicht in Nachahmung, sondern eher in Nachempfindung. Diese Ida Roland (1881–1951), für mich eher eine Niegekannte, doch für viele sicher auch eine Vergessene, hat einen der Söhne Mitsuko Coudenhove-Kalergis geheiratet, was sie in Matsunes Speil hievt. Michkazu rennt. Fängt man in der Vergangenheit zu graben an, so merkt man bald, dass man sich im Kreis bewegt. Matsune muss das nicht erklären, er läuft einfach im Kreis, bis er nicht mehr kann. Ein Treppenwitz der Geschichte, die, wie auch die Performance von Michikazu Matsune zeigt, nicht mehr als eine Ansammlung von Geschichten ist, ist die Flucht des Ehepaars Coudenhove-Kalergi / Roland über die Schweiz nach Amerika im 2. Weltkrieg. Ist doch Richard, Sohn einer Japanerin und eines österreichischen Diplomaten, der Gründer der Paneuropa-Union, der ältesten europäischen Einigungsbewegung.
Die schöne japanische Schauspielerin Tsuru Aoki hat in Hollywood Karriere gemacht und wurde sowohl geliebt wie gehasst. Das Foto entstand 1920. © wikimedia.wikimedia Noch während er erzählt, realisiert Matsune, dass er sich im Kreis bewegt, denn angeblic hat die abenteuerliche Flucht des Ehepaars Filmregisseur Michael Curtiz zum Film „Casablanca“ inspiriert. Und, wie keineswegs vergessen, darin spielt die Mitsouko duftende Ingrid Bergman die weibliche Hauptrolle. Matsune hat ja ein Herz für die Vergessenen und so stellt er neben die Bergmann und den Chaplin und die anderen, die ihm auf seiner Rundreise zwischen Mitsouko und Mitsuko begegnen und als liebevoll kaschiertes Brustbild auf der Bühne stehen, nicht den sattsam bekannten männlichen Hauptdarsteller der tränenfördernden Liebesgeschichte in Casablanca / Marokko, sondern den Filmehemann der Bergman, Paul Henreid, auch ei­­­n Vergessener. Wer kann tatsächlich aus dem Stand die Besetzung von Victor László in „Casablanca“ nennen. ­"Mitsouko & Mitsuko" Idee,  Künstlerische Leitung, Performance. Michikazu Matsune. Im Bild: Orient trifft Occident.
Michikazu Matsune ist ein vielseitiger Künstler, der Ausstellungen arrangiert, Interventionen im öffentlichen Raum durchführt, ein Stück in Gebärdensprache gezeigt hat und das Publikum mit gefundenen und erfundenen Abschiedsbriefen unterhält. Einen besonders brauchbaren, habe ich mir aufgehoben und erlaube mir, hier das Ende für weiteren Gebrauch zu zitieren: „goodbye and fuck you very much!“ Im Programm für die aktuelle Performance in den gedehnten Zeiten der Festwochen steht übrigens, dass Matsunes „letztes Werk Dance, if you want to enter my country! (2015)“ sei. Das ist natürlich Unsinn oder schlecht recherchiert (und schon gar nicht gut erfunden). Japan goes to Hollywood: Tsuru Aoki and Sessue Hayakawa in Five Days to Live , 1922. ©  m.imdb.comIch werde mich jetzt nicht in die Nesseln setzen und irgendeinen Auftritt, an den ich mich erinnere, und nicht den wirklich jüngsten (einen „letzten“ wird es hoffentlich noch lange nicht geben), an den ich mich nicht erinnere, zu nennen. Aber es ist undenkbar, dass der Universal-Künstler mit dem belebenden, kryptischen, schwarzen, gelben oder weißen, vielleicht auch farbigen Humor, den er, wie seine Gedanken und Erkenntnisse, niemals auf dem Präsentierteller vor sich herträgt, in den vergangenen fünf Jahren kein einziges „Werk“ zustande gebracht hat. Die Moral: Nicht allen Behauptungen in Programmheften ist zu trauen. Feststeht, davon kann sich jede / jeder selbst überzeugen, dass Michikazu Matsune sein Publikum noch nie enttäuscht hat. Auch nicht mit dem Duft französischen Parfums.

„Mitsouko & Mitsuko“. Künstlerische Leitung, Performance: Michikazu Matsune. Künstlerische Mitarbeit, Recherche: Miwa Negoro, Probenassistenz: Almud Krejza. Video: Adina Camhy, Michikazu Matsune. Musik: Camilo Latorre, Adina Camhy; Licht: Victor Duran. Produktionsleitung: Franziska Zaida Schrammel. 
Koproduktion Wiener Festwochen, Studio Matsune. Uraufführung im Rahmen der Wiener Festwochen, 25. August 2021. Weitere Aufführungen: 26., 27., 28. August, Kasino am Schwarzenbergplatz.
Fotos:  © Nurith Wagner-Strauss (4),  Elsa Okazaki (1).