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Spitzwegerich: Pick mich auf!, Low-Tech-Spektakel

Spitzwegeriche gefiedert: Dietersdorfer, Schlechter, Steiner

Punkt. Doch ncht das Ende, sondern erst der Anfang. Sollen wir, auf diesen endlich gekommen, auf dem Punkt sitzen bleiben oder den Standpunkt wechseln, mit dem Rufzeichen den Planeten verlassen und auf dem geflügelten Pegasus über den Himmel ins All galoppieren? Fragen, die auftauchen, wenn das Kollektiv Spitzwegerich seine jüngste Produktion, „Pick mich auf!“, als „Low-Tech-Spektakel“ im Werk X am Petersplatz zeigt. Premiere war am 23.6.2021.

Flugpionierin Emmy Steiner breitet die Flügel aus. Spitzwegerich ist eine Versammlung (Kollektiv) von Künstler:innen aus den Sparten Performance, Musik, Objekttheater, Literatur und Ausstattung. Beheimatet im Schubert Theater (ehemals Schubert-Kino) in der Währingerstraße, das seinen Schwerpunkt im Figurentheater hat. Für Pegasus und der Flugpionierin Emmy Steiner (PIP) ist allerdings die Bühne zu klein und so hat sich das Werk X-Petersplatz als Kooperationspartner für die klug konzipierte abwechslungsreiche Vorstellung angeboten. Mit Emmy Steiner sind Christian Schlechter und Simon Dietersdorfer auf der Bühne. Die Tänzerin Steiner fliegt, der Puppenspieler, Objektbastler, Bühnen- und Kostümbildner tut eben dies, bilden und auch spielen, Zähne zeigen und singen. Der Schauspieler Dietersdorfer spielt und rezitiert und ist auch für die Musik verantwortlich, steht an den Reglern und brüllt manchmal, dass ihm die Halsadern schwellen. Christian Schlechter am Projektor, das fliegende Wesen (Emmy Steiner) versteckt sich unter dem Federberg
Anfangs aber stehen die beiden Männer stumm und starr auf ihrem Punkt und starren sehnsüchtig in den Himmel. Dort wollen sie hin, aber die Erdlinge in den Zuschauerreihen wissen schon, das geht nicht wirklich. Der Traum vom Fliegen bleibt der Nacht vorbehalten. Aus einer rosa Federkugel entpuppt sich die Flugpionierin, lässt sich nicht unterkriegen, erzeugt den Strom (der Zeit?) mit der handbetriebenen Windkraftanlage, bläst ihre Hände auf, bis sie zu Flügeln werden und reitet auf dem weißen Pferd in die Lüfte. Doch der Pegasus ist auch nur Traum, bald geht ihm die Luft aus, er fällt in sich zusammen und ist nur noch ein Haufen Plastik. Hoffentlich wird der Kadaver nicht ins Meer geworfen.
Keine Bange, die Umwelt und ihre Verschmutzung ist nicht das Thema, wir werden weder belehrt noch gemahnt. Wir dürfen uns unterhalten, Sätze, die von riesigen Gebissen zerkaut werden, hören, zerlegen, neu zusammensetzen. Vorsätze, Aufsätze, Nachsätze, Sitzen bleiben. Natascha Gangl hat die Texte geschrieben, zitiert Wissenschaftler:innen und Poet:innen – ein Hauch von konkreter Poesie schwebt durch den Raum. Schlechter gießt Farbe ins Wasser und erzeugt die Wolken am Himmel, untermalt die dezente Musik mit Projektionen. Nicht nur menschliche Zähne klappern, auch Objekte zeigen Zähne und zermalmen Sätze.
Zum Titel des kurzweiligen, anregenden Abends hat Friederike Mayröckers Poesie angeregt. „Pick mich auf mein Flügel oder Anleitung zum poetischen Verhalten“ hat Mayröcker, die am 4. Juni dieses Jahres im 97. Lebensjahr verstorben ist, 1976 geschrieben. Spitzwegerich zieht die Wurzeln aus der Erde und breitet die Flügel aus, die Tänzerin, der Objektmeister und der Schauspieler zeigen uns, wie man abstürzt, wenn man zu hoch hinauswill. Doch die Performance selbst bleibt in allen Höhen, regt an und vielleicht ein wenig auf und entlässt nach einer knappen, reizvollen Stunde (sich vom getretenen Quark*) fernzuhalten, ist große Kunst!)  ein begeistertes und auch zufriedenes Publikum. Eine hätte es fast geschafft: Flugpionierin Steiner galoppiert auf Pegasus durch die Lüfte. Wer sich zwischen den Satzzeichen noch immer verirrt, kann sich an die Erklärung von Spitzwegerich halten: „Pick mich Auf!“ ist eine Beschwörung des ewigen Dramas von Idee und Realität – ein Requiem für die Schallmauer.“ Die wird durchbrochen, der feste Standpunkt wird verlassen, mit dem Rufzeichen fliegt man zu neuen Perspektiven, der Planet Körper, Kopf und Herz werden poetisch und die Hände auf dem Herzen zu Flügeln.
*) Der „getretene Quark“ bezieht sich auf einen Ausspruch Bert Brechts, der meinte, „Getretener Quark wird breit, nicht stark“, viele Performer:innen scheinen das im Überschwang ihrer Kreativität immer wieder zu vergessen.

Spitzwegerich: „Pick mich auf!“ von und mit Simon Dietersdorfer, Christian Schlechter, Emmy Steiner.
Text: Natascha Gangl; Bühne, Kostüm, Figuren, Projektionen: Birgit Kellner & Christian Schlechter; Musik: Simon Dietersdorfer; Choreografie: Martina Rösler & Emmy Steiner; Licht: Ines Wessely & Felix Huber; Konzept: Spitzwegerich. Eine Produktion von Spitzwegerich in Kooperation mit Werk X-Petersplatz. Uraufführung: 23. Juni 2021. Letzte Vorstellung: 1.7.2021.
Fotos: © Apollonia Theresa Bitzan, Spitzwegerich