Martin Schläpfer: „4“ Uraufführung, Aufzeichnung
Zweimal verschoben und endlich aufgeführt – als Geistervorstellung. Die Premiere der für 24. November geplanten Vorstellung Martin Schläpfers und des neu formierten Ensembles des Wiener Staatsballetts mit „Mahler, Live“ hat am 4. Dezember vor Tanzjournalist*innen und Mitarbeiter*innen endlich stattgefunden. Eine Belohnung für die hart arbeitenden Tänzer*innen. Applaus war verboten, er wäre wohl zu dünn gewesen.
Arte TV hat diese Mehrfachpremiere (erste Vorstellung mit einer Choreografie von Martin Schläpfer, Uraufführung dieser, Hans van Manens „Live“ zum ersten Mal an der Wiener Staatsoper, getanzt von einem anderen Ballettensemble als dem Dutch National Ballet, wofür van Manen das Videoballett 1979 geschaffen hat) als Livestream gesendet. ORF / Unitel haben Schläpfers Kreation „4“ aufgezeichnet und am 8. Dezember zeitig am Morgen ausgestrahlt. Über „Live“ mit Olga Esina, Marcos Menha und Henk van Dijk auf der Bühne sowie Shino Takizawa am Piano ist in der Besprechung des Live-Erlebnisses genug gesagt. In beiden Aufzeichnungen ist das Geisterhafte der Vorstellung erhalten geblieben: Keine Atmosphäre, kein Applaus. Schmerzhaft auch für die Mitwirkenden, die lautlos in den dunklen Saal lächeln und auf den ihnen fürwahr zustehenden Applaus und die Bravo-Rufe verzichten müssen. Keine Tricks, kein eingeblendeter Fake-Applaus, auch die Aufzeichnung war, wie es war: gespenstisch und lebendig zugleich, live eben, tanzende Körper im Schläpferschen Wimmelbild. Vielleicht haben die Zuschauer*innen daheim „Bravo“ gerufen, doch niemand hat es gehört.
Die Konserve zeigt immerwährende Perfektion, die Kameras sind weit genug entfernt, um das Panorama einzufangen, Schweißperlen sind nicht zu sehen; die Mikrofone nehmen die klopfenden Geräusche der Spitzenschuhe auf, doch der Atem ist nicht zu hören. Das ist zwar in der Oper für die Mehrheit der Zuschauer*innen nicht anders, doch die Atmosphäre ist selbst bei der aufs Minimum reduzierten Besucheranzahl eine andere, das gesamte Ensemble tanzt für mich, für meinen Nachbarn links und meine Nachbarin rechts. Zu Hause, allein vor dem Fernsehschirm, sehe ich ein anderes Ballett.
Die Tableaux vivants machen Eindruck, verschwinden die Tanzenden nicht in der Menge, rücken die Gesichter näher, die Körper sind plastischer und das Erkennen der Bekannten ist nicht mehr so schwer. Auch wenn einzelne und Paare in der Schwärze tanzen und der Akzent, das sich durch Licht, Farbe und Größe verändernde Trapez, oft nicht zu sehen ist, hat Bildregisseurin Myriam Hoyer gute Arbeit geleistet. Als Zuschauerin gelingt es mir nicht, auf die Bühne zu zoomen und das Bild ganz nah heranzuziehen und gleich danach wieder in die Totale zu switchen. Ein wenig hilft das auch der Choreografie, sie erscheint mir nicht mehr so beliebig wie bei der Live-Premiere, auch wenn ich noch immer nicht weiß, worauf Schläpfer hinaus will.
Klar, die Musik gibt eine Basis und einen Rahmen und sie weckt Gefühle, was den Tänzer*innen bei aller Virtuosität (diesmal) nicht gelingt. Doch Musik wirkt direkt im Sonnengeflecht und vor allem ins limbische System des Gehirns, dorthin, wo die Emotionen entstehen.
Mahler lässt mich Freude und Entzücken, Neugier, Überraschung und Staunen spüren. Doch der Sinn einer Ballettaufführung ist nicht, die Augen zu schließen und sich der Musik hinzugeben. Auf der Bühne sehe ich Spitzentanz und Akrobatik, Pliés in allen Variationen, übliche und unübliche Hebungen im Pas de deux, Tänzerinnen, die die Flügel ausbreiten als wollten sie abheben, den Blick in den Himmel gerichet, Tänzer, die mit gebrochenen Flügeln zu Boden fallen, Tanz auf der Spitze und auf flachen Füßen, Neoklassik und Volkstümlichen Tanz, vermischt mit Alltagsbewegungen.
Ich spüre nichts, finde keine Kontinuität, keine Überraschung und auch die Ironie und der Humor, die ich bei Mahler wahrnehme, geht mir ab.
Im Ballett am Rhein, dem Schläpfer zehn Jahre lang vorstand, wollte er keine Hierarchie haben, und das zeigt er auch in seiner ersten Arbeit in Wien. Schon Legris ließ immer wieder Corpstänzer*innen und Halbsolist*innen Solopartien tanzen, das ist nicht neu, spornt die Tänzer*innen an, gibt ihnen Gelegenheit, sich auszuprobieren und darzustellen. Schläpfer scheint diese Vermischung von Solist*innen und Corpstänzer*innen als Programm zu haben und bildet auch keine Paare, die ein Stück lang beisammen bleiben. In „4“ tanzen alle mit wechselnden Partnerinnen oder Partnern. Das ist PC und getanzte Demokratie, mich verwirrt es. Der Choreograf spricht von "einem Puzzle, einem Archipel". Ich sehe die Enzelteile, doch fügen sich diese für mich zu keinem Gesamtbild.
Es geht offensichtlich auf der Bühne nicht um eine durchgehende Komposition, schon gar nicht um ein Thema, sondern um eine Gala der Talente, und die sind in Wien reichlich vorhanden.
Die gleiche Methode wendet auch Kostümbildnerin Catherine Voeffray an. Manche der dunklen Kostüme der Frauen haben Farbtupfer in Rot, Silber oder Gold andere sind ganz weiß, für Priesterinnen möglicherweise. Manche Tänzerinnen tragen Hosen und nackte Schultern, andere lange Röcke und einen nackten Arm. Die Frisuren der Frauen imitieren den Nackenknoten der klassischen Spitzentänzerinnen, allerdings sind die Haare auf den Kopf getürmt, was nicht allen Tänzerinnen zu Gesicht steht. Auch die Herren zeigen einige nicht erklärbare Variationen in ihrer Kostümierung, die einen tanzen mit nacktem Oberkörper, die anderen im weißem Hochzeitsanzug. Was die einzelnen Tableaux wie die zugegeben exquisiten Entwürfe bedeuten, kann ich nicht enträtseln. Es gibt ja keine Rollen, die Bilder wechseln, auch die Tänzer*innen stellen sich immer wieder neu dar. Varietas delectat / Abwechslung erfreut, scheint mir das Motto zu dieser Uraufführung zu sein. Zwei Figuren haben Beständigkeit, schwarzgekleidete Frauen, ebenso rätselhaft wie alle anderen Figuren, aber wenigstens von Anfang bis Ende immer wieder auftauchend: Rebecca Horner und Yuko Kato. Sie sind Hexen oder Clowns, liebevolle Trösterinnen oder boshafte Stifterinnen von Zwiespalt und Verwirrung. Sie treten auf und verschwinden wieder, mischen sich unters Volk und suchen sich Männer als Partner, Kato duckt sich einmal unter vier Männern, die in unaufhörlicher Segnungsgebärde auf die sie blicken. Ihren letzten Auftritt haben sie im Finale, tanzen einen Reigen der „himmlischen Freuden“, konterkariert von Calogero Failla, bevor Slávka Zámečniková die letzten Worte singt („Die englischen Stimmen Ermuntern die Sinnen, Dass alles für Freuden erwacht.“), das gesamte Corps nach vorne tritt sich den Bauch reibt und andere ritualisierte Bewegungen ausführt, um schließlich den Kopf zu senken und sich die Hände vor die Augen zu halten. Mahler endet nicht mit diesem Pathos.
Die nächste Gelegenheit, Schläpfer als Choreografen zu sehen, ist am 30. Jänner 2021 mit der Premiere von „Ein Deutsches Requiem“ (Uraufführung von Ballett am Rhein 2011, Musik: Johannes Brahms) in der Volksoper. Eine neue Choreografie zeigt der Ballettdirektor am 26. Juni 2021 gemeinsam mit zwei Premieren von Georges Balanchine und Axel Ratmansky in der Staatsoper. „Sinfonie Nr. !5“ nennt er die Uraufführung zu Dimitri Schostakowitschs 15. Sinfonie.
Uraufführung „4“. Choreografie: Martin Schläpfer. Musik: Sinfonie Nr. 4 G-Dur von Gustav Mahler. Bühne: Florian Etti; Kostüme: Catherine Voeffray; Licht: Thomas Diek. Mit dem Wiener Staatsballett, Slávka Zámečniková, Sopran. Axel Kober dirigierte das Orchester der Wiener Staatsoper. Bildregie der Aufzeichnung: Myriam Hoyer.
4. Dezember 2020, Wiener Staatsoper.
Nächste Vorstellung: 8. Jänner 2021.
Die Aufzeichnung ist am 8. Dezember 2020 in der Matinee auf ORF 2 gesendet worden.'
Fotos: Ashley Taylor, © Wiener Staatsballett / Ashley Taylor