Wiener Staatsballett: Premiere „Mahler / Live“
Martin Schläpfers Choreografie für das Wiener Staatsballett als Uraufführung, vorangestellt die Premiere von Hans van Manens außergewöhnlichem Werk „Live“. Ein festlicher Abend, den ich mit allen Beschränkungen und Maske im Saal erleben durfte. Erleben und genießen mit den Tänzer*innen des Wiener Staatsballetts auf der Bühne – mein Weihnachtsfest. Kein Neid, bitte, die Bundesregierung hat „Besuche vonProben und künstlerischen Darbietungen ohne Publikum, die zu beruflichen Zwecken erfolgen“ in der aktuellen Verordnung ausdrücklich erlaubt. Ergo: Genuss und Arbeit zugleich – delecta et labora!
Ich darf jetzt sagen: Das Vergnügen ist im Vordergrund gestanden, vor allem mit van Manen und Olga Esina in „Live“. Zu Beginn des Videoballetts zur Klaviermusik von Franz Liszt wartet eine Kamera auf die Tänzerin, sie kommt und zugleich der Kameramann, Henk van Dijk. Während die zarte Tänzerin im dem Publikum den Rücken zuwendet, zeigt die Kamera sie von vorne – ein Tanz im Spiegel, mit dem Spiegel. Henk van Dijk (in weiteren Aufführungen Balász Delbó) ist Teil des Tanzes, stellt sich auch körperlichen Herausforderungen. Er umkreist die Tänzerin, zeigt sie aus unterschiedlichen Perspektiven, das Schwarzweiß-Video auf der Filmwand lebt ebenso wie die Tänzerin im roten Kleid, die vor Mann mit der Kamera zu fliehen scheint und auch mit ihm flirtet. Ganz nah geht sie an heran. Will sie in küssen? Um ihr auszuweichen legt er sich flach auf den Boden, zoomt ihre Beine, ihre Füße heran, auch Esinas schönes Gesicht, das eine Geschichte von enttäuschter Liebe erzählt. Der Angebetete taucht ganz kurz im Hintergrund auf. Sie sieht ihn nicht. Esinas sensible Gestik und ausdrucksstarke Mimik lassen ahnen, was die Frau bewegt. Die Kamera zeigt das Widerspiel von Hoffnung, Freude, Enttäuschung und Trauer. Sie muss ihn wiedersehen. Den Kameramann im Schlepptau verlässt sie die Bühne – und da ist er, Marcos Menha (Erster Solotänzer, mit Schläpfer vom Rhein an die Donau übersiedelt). Alles scheint gut: Menha und Esina umschlingen einander im innigen Pas de deux. Die Kamera schaut weg. Doch es bleibt nicht so, das leere Foyer wird zur Arena. Er hebt sie hoch, klebt sie an eine Säule als wollte er sie dort oben hängen lassen, sie antwortet mit einer Ohrfeige. Klatsch! Wütend eilt sie hinaus und kommt gleich wieder. Er geht und kommt nicht mehr wieder. Einsam bleibt sie zurück, traurig denkt sie an die erste Begegnung im Ballettsaal. Auch damals der Streit, wer die / der Stärkere ist, programmiert. Er endet mit Türenknallen. Die Tänzerin kehrt in die Gegenwart zurück, die Live-Kamera löst den voraufgezeichneten Rückblick ab. Echtzeit. Resigniert zieht sich Esina den Mantel an und wandert hinaus ins nächtliche Wien, mit den Spitzenschuhen geht sie in die Dunkelheit, achtet nicht auf den nassen Gehsteig, die Schneereste am Rand. Es ist Freitag, 4. Dezember, am Donnerstag hat es auch in Wien geschneit. Das legendäre Ballett von Hans van Manen, entstanden 1979 und ist die erste Arbeit mit dem vor 41 Jahren auf der Bühne noch ungewöhnlichem Medium. Eine Meisterarbeit mit der bezaubernden Ersten Solotänzerin Olga Esina, deren gestische und mimische Vielfalt, ganz aus der zu genießen ist. Eine Frau zwischen zwei Männern, eine intimes Solo im Zwiegespräch mit dem Publikum.
Nach einer kurzen Pause – Applaus bleibt den beiden Darstellern und der Darstellerin wie auch der Pianistin Shino Takizawa, versagt. Es ist Corona-Zeit.
Was Martin Schläpfer und das Wiener Staatsballett nicht hindert, das Hauptwerk des Abends zu zeigen, die Uraufführung von „4“ in der Choreografie Schläpfers zur Musik von Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 4 G-Dur, gespielt von den Wiener Philharmonikern, die im Orchestergraben der Staatsoper zum Orchester der Wiener Staatsoper mutieren, unter Axel Kober. Mahler-Klang, wie ihn Wien und die Philharmoniker lieben. Darin kann man versinken, nicht ganz, denn der Komponist holt die Hörerschaft immer wieder nahezu boshaft aus der Träumerei ins Hier und Jetzt. Dann wenden sich die Augen wieder auf die Bühne. Bei großer Musik besteht immer die Gefahr, dass man sich ganz dem Klang hingibt und vergisst, dass das eigentlich Ereignis auf der Bühne stattfindet. Mit den Tänzerinnen und Tänzern des Wiener Staatsballetts, mehr als hundert sind es, fast alle sind sie für Schläpfers erste Arbeit in Wien auf der Bühne. Handlungsballette sind nicht Schläpfers Sache. In seiner erfolgreichen Karriere hat er lediglich einmal ein solches choreografiert – „Schwanensee“, Uraufführung, Juni 2018. Wie in den Werken für das Ballett am Rhein, das er am Ende der vergangenen Saison verlassen hat, sind zwar auch in „4“ kleine Szenen zu sehen, doch bleibt wenig haften. Kaum habe ich mich darauf eingelassen, wechselt das Personal auf der Bühne, aus Trauer und Tod werden Frohsinn und Hoffnung, zwei Clowns (Denys Cherevychko, Davide Dato ) tollen über die Bühne, das Begräbnis ist vergessen. Mahler ist nicht ganz unschuldig an diesem raschen Wechsel der Emotionen.
Die Tänzer*innen des Wiener Staatsballetts, das große Ensemble am Ring und das kleinere am Gürtel, sind ausgezeichnet, international präsentierbar, dafür hat Manuel Legris als Direktor, Trainings_ und Probenmeister gesorgt. Die neuen, allein 13 im Corps de Ballet, nicht alle kommen direkt vom Rhein, und vor allem die Solist*innen (Yuko Kato, Seniortänzerin; Claudine Schoch, Erste Solotänzerin, Marcos Menha; Aleksandra Liashenko, Solotänzerin, Daniel Vizayo, Solotänzer; vier Halbsolistinnen inclusive Masha Tolstunova, die eine Rückkehrerin ist, und fünf Halbsolisten) fügen sich nahtlos in die Compagnie ein. Claudine Schoch und Marcos Menha haben sich schon in Vorstellungen von „Jewels“ und „Holländische Meister“ zu Saisonbeginn vorgestellt und ihre herausragende Qualität bewiesen. Tänzer*innen sind nicht nur diszipliniert, sondern auch flexibel, müssen sie sich doch immer wieder mit für sie neuen Choreografen auseinandersetzen und auch befreunden. So funktioniert auch das Befreunden innerhalb der Compagnie, es beginnt mit vorbehaltloser Akzeptanz.
Schläpfer verzichtet nicht nur auf eine durchgehende Erzählung, er benennt auch keine Rollen und lässt, zumindest in „4“ keine fixen Paare zu. Jede tanzt mit jedem und jeder mit jeder, wie es notwendig und angebracht ist. Lediglich zwei schwarz gekleidete Frauen – Schwestern, Witwen, Zauberinnen? – bleiben immer beieinander, tauchen auf und verschwinden, sind geheimnisvoll und fröhlich, bedrohlich und melancholisch. Yuko Kato und Rebecca Horner sind als Solistinnen am deutlichsten zu erkennen. Im Programmzettel sind auch die anderen Solistinnen und Solisten, die Paare (fixe gibt es nicht, jede tanzt mit jedem, jeder mit jeder), Männergruppen, Frauengruppen, gemischte Gruppen, und das Corps namentlich angeführt. Mir wird schwindlig. Ein wenig Ruhe kehrt im 3. Satz ein, Mahler gibt sie vor, „Ruhevoll“ steht in der Partitur. Die Tänzer und Tänzerinnen – sechs Männerpaare, vier gemischte – geben sich dem Adagio-Spiel der Streicher hin. Mahler unterbricht diese heilige Ruhe immer wieder, Gelegenheit für Schläpfer, die Bühne wieder anzufüllen.
Schön und auch raffiniert sind die vor allem in Schwarzweiß gehaltenen Kostüme, die von aufblitzendem Blau und ein wenig Rot ergänzt werden, von Catherine Voeffray. Bühnenbildner Florian Etti verzettelt sich nicht in Firlefanz und Effekten, er hat in die hintere Wand des im schwarzen Gevierts ein Lichtfenster gesetzt, ein Trapez, das sich vergrößert und verkleinert von blau zu orange und zu weiß wechselt. Einmal ist das Fenster zu einer Miniluke geschrumpft, doch weist ein Lichtstrahl direkt auf den durch parallele Lichtstreifen erhellten Tanzboden.
Am Ende des Letzten Satzes – Slávka Zámečniková singt, als Teil des Ensembles agierend, glockenhell und sicher das von Mahler vertonte Gedicht aus „Des Knaben Wunderhorn“ „Der Himmel hängt voller Geigen“ („Das himmlische Leben“) – taucht das gesamte Ensemble aus der Tiefe er Bühne auf, bewegt sich nach vorn, alle senken den Kopf, verhüllen ihr Gesicht mit den Händen. Langsam lässt der Dirigent den Taktstock sinken. Wieder: Keine Brandung aus Beifall klatschenden Händen. Der ORF zeichnet auf, wäre der Applaus der wenigen Gäste etwas gar mager.
„Mahler, Live“, Videoballett „Live“ von Hans van Manen, Premiere; Kostüme: Keso Dekker, Licht und Produktionsleitung: Bert Dalhuysen; Einstudierung: Rachel Beaujean. Mit Olga Esina, Tanz, Henk van Dijk, Kamera, Marco Menha, Tanz, Shino Shakizawa, Klavier.
Uraufführung „4“ von Martin Schläpfer. Bühne: Florian Etti; Kostüme: Catherine Voeffray. Mit dem Wiener Staatsballett, Slávka Zámečniková, Sopran. Axel Kober dirigierte das Orchester der Wiener Staatsoper.
4. Dezember 2021, Staatsoper.
Nächste Vorstellung: 8. Jänner 2021.
Die Aufzeichnung wird am 8. Dezember gesendet: ORF 2, 9.05 Uhr.
Fotos von Ashley Taylor. © Wiener Staatsballett / Ashley Taylor