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Living documents I – V, Degrees of Presence, brut

Raum der abwesenden Jenni-Elina von Bagh.

Installationen, Performances, Videofilme, Gedankenspiele  – eine belebte Ausstellung, eine geloopte, choreografische Installation. Geplant waren die fünf belebten Dokumente für das Frühjahrsfestival imagetanz 2020, brut im Kempelenpark. Ein Parcours von Box zu Box, in der je eine Tänzerin oder ein Tänzer inmitten ihrer installierten Bühne untersuchen, wie das Körperarchiv getanzter Bewegung den aktuellen Bewegungsablauf beeinflusst. Doch, „machen nur einen Plan …

… Und mach dann noch `nen zweiten Plan, Gehen tun sie beide nicht.“ („Der Mensch ist nicht schlau genug") Im Oktober verlegt in die Räume der VHS am Schwendermarkt, musste der „Grad der Anwesenheit“ reduziert werden:
Der Raum von Luke Baio für Dominik Grünbühel, und, schaut man genau, auch mit ihm. Foto © Walter RuthDas Produktionsteam, Charlotta Ruth & Dominik Grünbühel wollten nicht riskieren, die geladenen Gäste aus Schweden nach Wien reisen zu lassen. Also konnten die Performerinnen, Anna Öberg und Jenni-Elina von Bagh nicht körperlich anwesend sein. Von Jenni-Elina von Bagh war lediglich das Bühnensetting zu sehen, Plastikschleier, Flaschen, eine silberglänzende Kühltasche und andere Objekte. Anna Öberg hat zwei Videos geschickt, die die Idee von Ruth & Grünbühel anschaulich machen. Anna auf der Bühne in der Vergangenheit, Anna auf der Bühne in der Gegenwart, mit den gleichen Bewegungen tanzt sie im Kreis. DCharlotta Ruth hat den Kopf nicht in den Wollken, sondern in den Loops, in Raum und Zeit, symbolisiert durch eine Kugel aus Herbstblättern. © Ruth ie unterschiedlichen Texte, die sie zu den beiden Sequenzen spricht, sind gleichzeitig über Lautsprecher und im Headphone zu hören. Zwischen den Loops (Englisch: Schleife. Der Begriff stammt aus der Musik, wird jedoch auch für wiederholbare Bewegungssequenzen verwendet) kehrt sie den Boden auf, Besen und Schaufel liegen auch im Kleinen Saal im 1. Stock der VHS am Schwendermarkt bereit.
PETER ist sowieso niemals körperlich vorhanden, PETER, 1987 in Schweden geboren, staatenlos, Vater: Peter Mills, ist nur ein Name, ein Prozess, ein Zustand, ein Double, eine Performance, PETER ist alles Mögliche, wir sind PETER. Das wissen wir schon in der Eingangshalle, weil den Besucher*innen der Name aufgeklebt wird. PETER begleitet von Station zu Station. Körperlos. Körperlich anwesend sind jedoch Charlotta Ruth und Dominik Grünbühel weit voneinander getrennt, er im Keller des Haupthauses, sie im Foyer 2 im kleinen Haus nebenan. Sie sind die Initiatoren des Projekts und bieten souverän eine informative und auch intime, lockere Vorstellung. Aktuelle Raumausstattung für Anna Öberg von Luke Baio. © Baio.Basis ist bei beiden die Wiederholung, der Loop. Grünbühel singt (ein selbstgedichtetes und von Johannes Burström vertontes Walzerlied), tanzt, spielt auf der Ukulele und auf der Gitarre, trägt jeden sekundengenau gezeigten Loop in sein Protokoll ein. Ordnung muss sein, deshalb werden auch die 2mintügen Pausen genau eingehalten. Sie geben Gelegenheit für munteres Geplauder. Der Piepston ruft zur Arbeit. Grünbühel steht, liegt, bewegt sich (wieder) im, mit Hilfe von Luke Baio, aus Bambusrohren ( „Fast ohne Schrauben und Nägel“) erbauten Bühnenkabäuschen.
Charlotta arbeitet auf dem warmen Steinfußboden: „Wir sprechen über Fußbodenheizung“ tippt sie später in das Protokoll, das auf dem Bildschirm zu sehen ist, sich selbst neu ordnet, mitunter spricht und sich auch wieder löscht. Das Protokoll soll vom Publikum gefüllt werden, Charlotta Ruth weckt die Vergangenheit: „Was hat du heute früh gemacht?“, und lenkt den Kopf in die Zukunft: „Was wirst du heute Abend tun?“ Der Rahmen ist also abgesteckt, wie beeinflusst der eben, oder in einer anderen Vorstellungen gezeigte Bewegungsablauf, den, der aktuell wieder ausgeführt wird. Stört der vergangene im Körper gespeicherte Loop den aktuellen, wie wirken sich beide auf den zukünftigen aus? Spannende Fragen, Ein Kaleidoskop der Raumausstattung von Jenni-Ellina von Bagh. © van Baghdie vor allem die Ausführenden selbst interessieren, für die andere Seite der Bühne, dem Publikum, bietet sich darüber hinaus auch ein Studium der Gedanken und Bewegungen der Performer*innen an.
Es geht in der Bühnenkunst auch immer um Fragen von Raum und Zeit. Die wird auch von Ruth mit Blicken auf die Stoppuhr genauestes gemessen, die Pausen werden eingehalten, und damit das Publikum, ohne die im direkten Gespräch vorgebrachten Erklärungen versteht, wird auch der Raum, den die Besucherinnen (während der Zeit, die ich mit den „Living Documents“ verbracht habe, tatsächlich nur -innen) einnehmen, begrenzt. Die Zeit ist es sowieso, weil die Zahl der Anwesenden durch den Raum und auch die Corona-Regeln eingeschränkt ist, und auch die Performance ist nach etwa 12 Minuten zu Ende, beginnt wieder von vorne, mit neuen Gästen, neuem Protokoll. Aus der Vogelperspektive sind auch diese Szenen ein Loop, fünf solcher Szenenwiederholungen passen in eine Stunde. Charlotta denkt über den Zwischenraum in Zeit und Raum nach.  © Johannes BurstromDie Vorstellung von Grünbühel und Ruth samt den drei nur körperlosen Dokumenten waren drei Stunden zu betrachten und die beiden echten „Living Documents“ auch zu genießen. Ob bei allen Zuschauerinnen der Kopf tatsächlich auch dort war, wo der Körper war?
Für das interessante, schön gestaltete Programmheft muss mein Kopf jedenfalls dort sein, wo ich es vor Augen halte und die Synapsen aktiviere, damit sie die Verbindung zum gespeicherten Englisch-Wörterbuch herstellen. Ich will ja nicht im Kreis gehen, Loops haben im Alltag keinen Platz.
Die Erinnerung ist aktiviert: Zu sehen war auch ein Video von Georg Eckmayr, das ein Als ob im Kempelenpark zeigt. Es gibt keine Erinnerung daran, der Parcours ist niemals eröffnet worden: „False Memory Syndrom“, ein Video.

„Living Documents I – V, Degrees of Presence". Konzept und künstlerische Leitung: Charlotta Ruth & Dominik Grünbühel. Choreografie und Performance: Anna Öberg, Jenni-Elina von Bagh, Charlotta Ruth, Dominik Grünbühel, PETER. Set-design: Luke Baio, Soña Romberg; Sound: Johannes Burgström. Graphik: Maiko Sakurai Karner. Produktion: Ruth & Grünbühel in Zusammenarbeit mit brut. 17. und 18. Oktober 2020, brut am Schwendermarkt.