Ian Kaler / Le Studio „Inosculation“, Showing
Eine Puppe, ein Erzähler, live auf der Bühne, ein Tänzer auf der Bildwand. Ian Kaler, Erzähler und Tänzer zugleich, zeigt in Le Studio die ersten Schritte der Recherchearbeiten für eine neue Performance-Serie, die den Titel „Auto-Fiction“ haben soll. Ein Film soll auch entstehen. Die Puppe ist fertig gebaut, Filmmaterial existiert bereit und Ian Kaler hat einen Text geschrieben, der von der Geschichte der hölzernen Puppe Pinocchio von Carlo Collodi (1826–1890) inspiriert ist. Die unterschiedlichen Medien – Sprache, Tanz, Stimme, Musik – fügen sich bestens zusammen, die einzelnen fertigen Kapitel sind durch Kalers Erzählung zusammengehalten, sodass dieses Showing gar nicht wie ein Fragment wirkt.
Der Titel der ersten Bausteine, die Kaler vor Publikum zeigt, ist weniger leicht zu entschlüsseln, nur Förster, Gärtner und Waldarbeiter wissen, was die Inosculation ist, nämlich das Zusammenwachsen zweier Stämme, Zweige oder Wurzeln von zwei nebeneinander stehenden Bäumen. Der Begriff wird auch in der plastischen Chirurgie für das Zusammenwachsen der transplantierten Haut mit der Umgebung verwendet.
Kaler erklärt den Begriff zu Beginn ohnehin, am Ende des Showing, das gar nichts Buchstückhaftes an sich hat, so perfekt arbeiten Kaler und sein Team, versteht man auch die Sinnhaftigkeit dieses vor allem im Englischen gebräuchlichen, fremd klingenden Titels.
Die Abenteuer des Pinocchio sind für den Tänzer eher ein Sprungbrett. Kaler verwendet zwar einige Elemente, doch hat er das Buch nicht als Kinderbuch gelesen, sondern als Erwachsener. So hat er der Geschichte von der Puppe, der schließlich ihre Sehnsucht, ein Mensch zu sein, erfüllt wird, eine neue Bedeutung verliehen und kann sagen, was ihn bewegt.
Die Performance beginnt auf der Bildwand mit einem Dokumentarteil. Ian Kaler und die Bühnen- und Kostümbildnerin Nanna Neudeck, die für Konstruktion, Realisation und Kamera verantwortlich ist, zeigen, wie sie die Puppe, sie wird The Kid (das Kind) heißen, bauen, sie soll sich so bewegen können wie ein Mensch, die Hände benutzen, die Arme in alle Richtungen schwingen. Vielleicht darf The Kid später auch tanzen, aber so weit ist das Projekt noch nicht gelangt. Im gezeigten Teilergebnis bleibt The Kid eine Puppe, die im Theater von anderen Puppen gleich als eine der ihren erkannt und herzlich begrüßt wird.
Gut erinnert sich Ian Kaler an Pinocchios Reise in den Bauch eines Wals, sein Erzeuger, der Holzschnitzer Geppetto, sitzt ebenfalls darin, an einem Tisch mit einer kleinen Lampe.
Diese Szene erlebt auch The Kid, er weiß, wie er und der alte Mannf aus dem Fischbauch entkommen können. Weil der alte Mann nicht schwimmen kann, wird The Kid ihn auf dem Rücken durch die Wellen tragen – das Kind hat begriffen, dass es im finsteren Leib des Riesenfisches sich selbst begegnet ist: „Ich bin mein eigener Vater“, ein Topos der aus der Fiction-Literatur über Zeitreisende bekannt ist. The Kid rettet sich selbst und wird erwachsen. „He turned to a boy, a dancer.“ Kaler spricht seine Kommentare und die autobiografisch angehauchte Geschichte in einem klaren Englisch, mit angenehmer Stimme und richtigen Atempausen.
Am Ende dieses ersten Entwurfs für eine Performanceserie und einen Film mit The Kid sieht sich der Tänzer Ian Kaler selbst zu, wie er sich sanft biegend, als wäre er selbst eine Meereswelle, eine Wolke am Himmel, durch Zeitlupe-Effekte federnd und schwebend, dem Tanz hingibt. Effekte lassen die Farben invertieren, den Körper unwirklich werden, der Tänzer gleitet in der aufbrausenden Musik dahin, der Körper löst sich auf, verschwindet. Am Boden bleibt, real und lebendig, Ian Kaler. The Kid, das Kind, verlässt ihn nicht.
Wäre die Vorstellung nicht als „Showing“ und „work in progress“ markiert, würde ich nichts vermissen. Dennoch bin ich gespannt auf die weiter Geschichte, vielleicht werden es auch Abenteuer von The Kid und Ian Kaler.
Ian Kaler: „Inosculation" (Showing). Konzept, künstlerische Leitung und Performance: Ian Kaler. Konstruktion, Realisation und Kamera: Nanna Neudeck und Ian Kaler.
Videoclips aus „The Adventures of Pinocchio" by Giuliano Cenci, based on Le avventure di Pinocchio by Carlo Collodi in 1883, G.G.Communications, USA 1978 (Original: Un burattino di nome Pinocchio, Cartoons Cinematografica Italiana, Italy 1972).
Musik: Johannes Hartl und Christian Heidenbauer, Angel Olsen. Technik: Heinz Leitner und Paul Kotal.
Produktion Ian Kaler in Kooperation mit Le Studio – Film und Bühne.
Fotos: © Le Studio.
Gesehen am 7.10.2020 (Generalprobe). Termine: 8. und 9. Oktober 2020, Le Studio / Studio Molière.