Liquid Loft / Chris Haring: „Blue Moon you saw…“
Einladung in eine fremde Welt, Ankommen in einer vertrauten Welt, der Welt von Liquid Loft. Scheinbar vertraut? Chris Haring und seine Company feiern Geburtstag. Vor 15 Jahren hat Chris Haring mit dem Musiker Andreas Berger, der Tänzerin Stephanie Cumming und dem Dramaturgen Thomas Jelinek Liquid Loft gegründet. Sie sind alle auch heute noch auf der Besetzungsliste jeder Produktion zu finden. An die 20 sind es geworden, und nun das Geburtsgeschenk an sich selbst und das Publikum, vor dem Lok down begonnen und nun endlich zur Aufführung gelangt. Die Premiere hat am 6. Oktober im bis auf den letzten möglichen Platz gefüllten Odeon stattgefunden.
„Blue Moon you saw me standing alone / without a dream in my heart / without a love of my one“, das sind die ersten Zeilen eins Songs aus dem Jahr 1934, von Liquid Loft in der Interpretation von Elvis Presley eingesetzt. Traurig und romantisch zugleich. Auch ein Film hat Chris Haring für sein neuestes Tanzstück inspiriert: „Letztes Jahr in Marienbad“ von Alain Resnais, aus dem Jahr 1961. Im Licht der Bühne im Odeon wird die Erinnerung daran belebt: Leere Räume, leere Blicke, die Menschen wie die Steinfiguren vor dem Hotel, in dem sich Menschen ohne Erinnerung, ohne Gefühle treffen und aneinander vorbeireden, mit den immer gleichen Sätzen.
So kalt wie dieser Film ist „Blue Moon you saw …“ allerdings nicht, auch nicht so tödlich langweilig. Im Gegenteil, die Performance, „Choreocinema“ nennt der Filmhistoriker und -kritiker Stefan Grissemann die Ergebnisse des Prozesses, in dem bei Liquid Loft eine Aufführung entsteht, weckt Emotionen. In früheren Stücken ist auch oft die Kamera dabei, zeigt die Bilder an der Wand und die Vor-Bilder auf der Bühne. Diesmal nicht. Keine Kamera, dennoch eine irreale Welt, eine Traumwelt. „Blue Moon“ ist die Fortsetzung von "Stand-Alones (polyphony)", 2019 im Leopold Museum gezeigt. Tänzer und Tänzerinnen werden zu belebten Skulpturen, „Stand-Alones“ nennt sie Chris Haring, die sich isoliert in einem eigenen Raum bewegen, die Bilder an der Wand gehören zur Ausstellung, die selbstvergessen tanzenden acht Darsteller*innen werden auch zum Museumseigentum. 2020 sind sie wieder alle da, gemeinsam, doch genauso allein wie zuvor. Es gibt keinen Kontakt, keine Berührung, manchmal versuchen sich zwei, mit den Händen zu erreichen, andere mit den Füßen, aus dem Pas de deux wird nichts, sie erreichen einander nicht. Da nützen werbende Blicke aus lüstern blinkenden Augen, das Promenieren und Stolzieren der Damen vor den glotzenden Männern nichts, sie bleiben alle Stand-Alones.
„I‘m so lonesome I could cry“ singt Hank Williams (1949), der Mond ist bei ihm nicht blau, sondern verweint: „I’ve never seen a night so long / When time goes crawling by / The moon just went behind the clouds / to hide his face and cry.” Joseph Eichendorff hätte die wohlige Einsamkeit und Melancholie nicht schöner ausdrücken können. Doch Liquid Loft erlaubt nicht, dass ich es mir in diesem Wohlbefinden bequem mache. Ein Höllenlärm bricht los, die Figuren reden, schreien durcheinander, das Licht versteckt sich (hinter den Wolken?), die Figuren erstarren, werden zu gemeißelten Statuen, lehnen an den Säulen, liegen gekrümmt auf dem Boden, oder strecken alle Viere von sich. Ich sehe Bilder aus den Museen, aus der griechischen Mythologie, sehe Verzweiflung und Sehnsucht, Verlockung, sehe zarte Weiblichkeit und harte Männlichkeit, sehe Versuche, sich den anderen Figuren zu näheren, mit dem einen oder der anderen zu kommunizieren, doch wie eine Aura aus Eis oder aus Nichts ist jede / jeder abgeschirmt, innen genauso leer, wie die wiederholten Gesten und gesprochenen Worte. Die Figuren sprechen nicht selbst, sie sind stumm, bewegen nur die Lippen, der Speaker ist immer dabei. Nicht nur die Bewegungen jeder / jedes Einzelnen sind faszinierend, umwerfend, auch einfach schön, und auch wenn die Tänzerinnen und Tänzer des Liquid-Loft-Kollektivs auf der Bühne nichts Menschliches zeigen, eher fremden Wesen gleichen, ganz mit sich selbst beschäftigt, bestens eingerichtet in ihrer lonesomeness, berühren sie mich tief. Es sind doch nicht nur Körper auf der Bühne, die hohlen Figuren sind zugleich auch Menschen, Frauen und Männer, die tanzen und sich ausdrücken.
“Blue Moon” lebt von den Gegensätzen, traurig-schöne Lieder, Vogelpfeifen und Höllengeräusche, helles Licht und tiefe Finsternis, zärtliche Gesten und geballte Fäuste, fließende Bewegungen, Stillstand und heftige Gesten, schnelle Schritte, angetrieben von der Musik; Chaos und Ordnung, allein und gemeinsam. Dieser Wechsel der Stimmung, des Lichts und des Tempos zeigt die Flüchtigkeit, nicht nur des Tanzes, es liegt in allem, nichts bleibt, wie es ist, alles vergeht, zerfällt, wir alle fallen.
Auch die schöne Melancholie, die erwärmende Traurigkeit bleiben nicht, Katharina Meves, nein die Knef, sagt ein Gedicht auf, die Meves bewegt nur die Lippen, sie kann das, alle von Liquid Loft können es, Lippensynchronizität, nicht jede(r) kann das. Das Licht tanzt mit, die Figuren werden Schatten an die Wand, sind im Gegenlicht fast nicht auszunehmen und im schnellen Wechsel Schattenrisse ihrer selbst. Sie tanzen allein und alle neben einander, synchron, als wären sie ein Körper, dessen Gliedmaßen nichts voneinander wissen. Der Raum im Odeon wird zur Kirche (auch in Kirchen ist Liquid Loft schon aufgetreten und auf Sanddünen in den Niederlanden), die Figuren bewegen sich (oder auch nicht) im Hauptschiff und auch in den Seitenschiffen.
Choreocinema. Am Ende wird der Film dunkel, die Figuren verschwinden, lösen sich allmählich auf. Ich möchte noch 30 Sekunden geschenkt, doch einer / eine will zeigen, dass er / sie kapiert hat: Ende. Stimmungszerstörer*innen.
Liquid ist ein so exzellentes Team, Tänzerinnen, Tänzer, Lichtraum, Klangraum, Raumraum, Choreografieraum, Kostümraum – ein Gesamtkunstwerk. Meisterhaft. Bewegend und beeindruckend, unvergesslich. Distanz und Vakuum: Eine Verbeugung vor COVID-19? Keineswegs! Idee und Konzept waren schon vor dem Virus in der Welt. Chris Haring hat eine einprägsame Antwort gefunden: „Das Virus hat uns eingeholt.“
Liquid Loft / Chris Haring: „Blue Moon you saw …“
Tanz, Choreografie: Luke Baio, Stephanie Cumming, Dong Uk Kim, Katharina Meves, Dante Murillo, Anna Maria Nowak, Arttu Palmio, Hannah Timbrell.
Künstlerische Leitung, Choreografie: Chris Haring. Choreografische Assistenz: Stephanie Cumming. Komposition, Sound: Andreas Berger; Lichtdesign, Szenografie: Thomas Jelinek; Theorie, Text: Stefan Grissemann. Company Management, Produktion: Marlies Pucher. Fotos und Videodokumentation: Michael Loizenbauer.
Premiere: 6. Oktober 2020, Odeon.
Weitere Vorstellungen: 7., 8., 9., 10. Oktober 2020.
Außerdem im Rahmen von „ImPulsTanz Special: 15 Jahre Liquid Loft“:
„Shiny Shiny“: Buch- und Album-Präsentation, Konzert von Andreas Berger. 10. Oktober 2020, Odeon. Eintritt frei, Anmeldung.
Posing Project B – The Art of Seduction“ 13., 14., 15., 16., 17. Oktober 2020, Odeon
Tickets über culturall.
Informationen: ImPulsTanz.