„Hollands Meister“, Tripelabend in der Volksoper
Eigentlich hat die Ballettsaison in der Volksoper längst begonnen, nämlich mit den letzten Vorstellungen des Erfolgsballetts „Peter Pan“ am 10. September. Doch damit hat der neue Ballettdirektor, Martin Schläpfer, noch nichts zu tun gehabt, es war quasi eine Verlängerung der Saison 2019 / 20. Am 20. September hat die neue Saison so richtig eingesetzt. Überraschung bietet Direktor Schläpfer noch keine, vorsichtig holt er drei Stücke aus dem Repertoire, die zwar in den Körpern der Tänzer*innen, doch in dieser Zusammenstellung noch nie auf dem Spielplan gestanden sind. Eine Premiere also. Paul Lightfoot mit Sol León, Hans van Manen und Jiři Kylián sind „Hollands Meister“. Das Staatsballett tanzt in der Volksoper.
„Hollands Meister“, das sind drei prägende Persönlichkeiten des Nederlands Dans Theater (NDT) in Den Haag. Van Manen, Kylián und das Duo Lightfoot / León haben als Choreografen und Direktoren das NDT und die Entwicklung des Balletts beeinflusst und sind als Tänzer (Tänzerin) von ihrem 1959 gegründeten Ensemble (einer Abspaltung der Nationalen Compagnie) ebenso beeinflusst worden. Van Manen war mit Kollegen im Gründungsteam. Er ist mit der eleganten Choreografie „Adagio Hammerklavier“ (1973) präsent. Nur wenig jünger ist Jiři Kyliáns Ballett zu Igor Strawinskys Chorwerk „Symphony de Psaumes“, entstanden 1930. Damals hat Strawinsky in Nizza gelebt, dementsprechend ist der Titel Französisch. Kylián lebte und arbeitete in den Niederlanden, also heißt sein Werk niederländisch: „Psalmensymfonie“, auf Deutsch demensprechend „Psalmensymphonie“. Jetzt ist der Titel Englisch.“symphony of psalms“. ? Egal, gesungen wird vom English Bach Festivalchorus unter Leonard Bernstein Lateinisch: Laudate, laudate, Halleluja.
Mit diesem kantenlosen Einstand hat Schläpfer es geschickt vermieden, das konservative Ballettpublikum vor den Kopf zu stoßen. Am milden Premierenabend waren die Besucher*innen, trotz Maske und Abstand, ebenfalls milde gestimmt. Gekommen war man zu einem Familienfest, reduzierte Runde, bekannte Gesichter, freudige Begrüßung davor, heftiger, Freude und Begeisterung ausdrückender Applaus danach. Drei Stücke, dreimal Ovationen und strahlendes Lächeln der Tänzer*innen, die dreimal beweisen konnten, dass das Wiener Staatsballett zu den Spitzenensembles gezählt werden darf.
Ein dramaturgisch klug aufgebauter dreiteiligen Abend, der den Vätern und des neoklassischen Tanzes, Hans van Manen und Jiři Kylián, sowie dem künstlerischen Sohn und der Tochter, Paul Lightfoot und Sol León gewidmet ist. Gleich zu Beginn hebt sich die Laune in lichte Höhen.
Lightfoot und León haben ihr bezauberndes, drolliges Stück, „Skew-Wiff“, mit „Schräglage“ zu übersetzen, selbst aufgefrischt und konnten sich auch persönlich für die trotz aller Beschränkungen lautstark geäußerte Begeisterung bedanken.
Es ist auch ein richtiges Vergnügen, den drei Männchen und dem später hinzukommenden Weibchen zuzusehen, wie sie die Muskeln schwellen lassen wie Verrückte zappeln und den Kopf von einer Seite zur anderen wenden, auf dem Rücken rutschend die Bühne überqueren, Purzelbäume schlagen und sich auch dezent in den Schritt greifen. Und dann kommt das Weibchen, wie die Männer wackelt sie mit dem Hinterteil, biegt sich durch in alle Richtung und schafft es, zwischen den Beinen des einen den anderen zu küssen. Dass diese Explosion an Kraft und Akrobatik den Tänzern und der Tänzerin Schritte und Bewegungen abverlangt, die sie nicht gewohnt sind, vergisst man schnell, so lustvoll springen und purzeln Davide Dato, Denys Cherevychko und Masayu Kimoto. Die zierliche Halbsolistin Fiona McGee tanzt, wie Davide Dato, die Rolle zum ersten Mal und kann als Solistin dieses, für die Ausführenden anspruchsvollen, Stückes ihre Biegsamkeit und Balance zeigen. Getanzt und gekaspert wird zur rasanten Ouvertüre der Rossini-Oper „Die diebische Elster“. Kaum zu glauben, dass die Choreografie bereits 24 Jahre alt ist. Pures Vergnügen ohne einen Anflug von Staub.
Puren Tanz bietet Hans van Manen mit seinem federleichten „Adagio Hammerklavier“, dem einzigen Stück mit Live-Musik. Die Pianistin Shino Takizawa sitzt einsam im Orchestergraben und hält sich genau an Christoph Eschenbachs Vorgabe, der für das Adagio aus Beethovens „Großer Sonate für das Hammerklavier“ 24 Minuten gebraucht hat. Zum Vergleich: Maurizio Pollini hat es in 14 gespielt. Van Manen will es so, zelebriert er doch mit der Choreografie, die Langsamkeit: Ein Ballett in Slow Motion. Drei Paare, drei Geschichten – van Manen erzählt keine Geschichten, er choreografiert die Schönheit und Geometrie des Tanzes, doch wenn Mann und Frau gemeinsam tanzen, einander in die Augen schauen, mit den anderen Paaren Kontakt aufnehmen, sich einander zu- und auch wieder abwenden, sind Geschichten, Beziehungsgeschichten unvermeidbar. Getanzt wird mit gestreckten Gliedmaßen, mit Arabesken und Pliés und wunderschönen Hebungen, die gar nicht enden, weil der Partner die Tänzerin von der Bühne trägt. Wird er sie wieder herunterlassen, sanft und im richtigen Tempo? Die kleinen Details - der Drehung eines Kopfes, dem Flexen eines Fußes – vibrieren erotisch. Der Fluss der Choreografie wird ständig unterbrochen – Freeze –, Körper versteifen sich, Hebungen bleiben in der Luft stehen. Die Ersten Solotänzerinnen Olga Esina, Ketevan Papava und Liudmila Konovalova schweben im wasserblauen Tüll und schmiegen sich in die Arme der Männer, Robert Gabdullin, Roman Lazik und Andrey Teterin, die in weißen Hosen, mit nacktem Oberkörper stolze Männlichkeit zeigen. Gabdullin (Erster Solotänzer) und Halbsolist Teterin zeigen als Debütanten in der Rolle keinerlei Nervosität und fügen sich nahtlos in das Adagio-erfahrene Ensemble ein.
Zum Abschluss erhebt Jiři Kylián mit seine 1978 für das noch recht junge NDT geschaffenen Balletts zu Igor Strawinskys Chorwerk „Symphonie de Psaumes“, die Herzen. Einzig die vom Ballett am Rhein nach Wien übersiedelte Halbsolistin Alexandra Inculet ist neu in der Versammlung von acht Paaren. Kyliáns „Psalmensymphonie“ haben die meisten Gäste im Publikum noch im Gedächtnis, die letzte Aufführung war vor einem Jahr, und wie viele Choreografien, wird auch dieses Stück mit jeder Aufführung geschmeidiger und konzentrierter, der sakrale Hauch, verstärkt durch die roten Teppiche an der hinteren Wand (Bühne: William Katz) und die an Gebete erinnernden Gesten – erhobene Arme, gebeugte Köpfe, kniende Frauen, auf dem Boden liegende Gemeinde – ist dem Ballett nicht zu nehmen.
Ein gelungener, fröhlich bis ernster Abend zum Vor-Einstand der neuen Ballettdirektion.
Der wahren Einstand wird am 24. November mit einer Uraufführung gefeiert. Nach van Manens Videoballett „Live“ zeigt Martin Schläpfer seine Choreografie „4“, zur 4. Symphonie von Gustav Mahlers.
„Hollands Meister“, Choreografien von Paul Lightfoot und Sol León, Hans van Manen, Jiři Kylián. Premiere: 20. September 2020, Wiener Staatsballett in der Volksoper
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Noch vier Vorstellungen: 27.September., 1., 8., 15. Oktober 2020.
Fotos: Ashley Taylor, © Wiener Staatsballlett / Ashley Taylor