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Elio Gervasi: „Incorpo-ratis“, Off-Theater

Das Chaos breitet sich aus: Jede(r) tanzt für sich allein.

Das Chaos sei willkommen, die Ordnung hat versagt“, setzt Elio Gervasi als Motto seiner neuen Gruppenchoreografie voran. Genau zitiert hat Karl Kraus (samt Strichpunkt) geschrieben: „Und das Chaos sei willkommen; denn die Ordnung hat versagt.“ Egal, so oder so, der Satz erklärt Gervasis Intention, wie auch die Tänzer*innen es mit dem Mikadospiel tun, dessen Stäbe sich immer wieder der Ordnung widersetzen.
Chaos und Ordnung, Leistungserwartung und Überforderung sind das Thema dieser bestens gelungenen, genreübergreifenden Choreografie, gezeigt an drei Abenden im Off Theater.

Mit höchstem Körpereinsatz: Luna Cenere. Erstmals in einer eigenen Version im November als Tanz ist-Spezial in Dornbirn gezeigt und dort auch allgemein bejubelt, ist Elio Gervasis neue Choreografie, „Incorpo-ratis“, bei der Premiere in Wien unter keinem guten Stern gestanden. Knapp vor Aufführungsbeginn hat einer der Tänzer vom plötzlichen Tod eines Familienmitglieds erfahren. Er  hat sich entschieden, die Premiere trotzdem zu tanzen, für die weiteren Vorstellungen ist Lia Ujčič eingesprungen. Überdies hat sich die Tänzerin Chiara Corbetta die Mittelhandknochen gebrochen und die Folgevorstellung tapfer und gewandt mit einem Gipsarm getanzt. Die Choreografie ist vom Raum abhängig, sodass „Incorpo-ratis“ an jedem Ort etwas anders aussieht und die Tänzer*innen (aktuell fünf Frauen, zwei Männer) sich immer wieder neu orientieren müssen. Deshalb wohl nennt Gervasi seine Choreografie auch eine „offene Werkstattsituation, in der es wie bei einem Happening nicht auf Resultate, sondern auf den Prozess ankommt: Tanz, Musik, Bildende Kunst verschmelzen zu einer unfertigen Einheit.“ Bühnenbildner Valter Espositio, als Wandmaler Teil der Performance.

„Unfertig“ jedoch, mutet nichts an in dieser einstündigen Performance, in der tatsächlich die von Gervasi genannten Genres zu einer untrennbaren Einheit verschmelzen. Klar, die Tänzer*innen bewegen sich im Zentrum, gewandt wandert der Tenor Claudio Covato durch das Chaos der energiegeladenen Körper, singt, jammert, jault, vokalisiert, wie es einem Sänger ansteht, auch auf Italienisch und lässt sich wie die Tanzenden auch von der ausdrucksstarken, nahezu sprechenden Musik von Alessandro Vicard leiten. Diese brummt und brodelt, wimmert und tost, gegen Ende höre ich von ferne eine Art von Folgetonhorn, als ob endlich Rettung käme. Das Publikum sitzt an den beiden Längswänden der White box im Off Theater, die Breitseiten gehören der Bildenden Kunst. Diskret bearbeitet Valter Espositio die papierene Ziegelwand, malt Ziffern, Buchstaben, menschliche Silhouetten. Claudio Covato (li.) bewegt sich singend mit den Tänzer*innen.Solche hängen auch gegenüber aus Pappendeckel. Am Höhepunkt des bedrängenden Chaos verlieren sie ihre Contenance, werden sie malträtiert und massakriert, hängen geknickt mit verdrehten Köpfen schlapp an der Wand. Da passt die lädierte Chiara Corbetta mit ihrem Gipsarm gut hin, wenn sie sich zu den zerstörten, gestörten Figuren gesellt.

„Incorpo-ratis“ ist ein beklemmendes Stück. Bedrohlich wirken die Stäbe, mit Hilfe derer gleich zu Beginn Sinn und Inhalt der Performance klar gemacht wird, auch die Musik, die stille Arbeit des Malers, die bewusst störenden Auftritte des Sängers und die Eigenwilligkeit der Tänzer*innen, die in großartigen Solos oft verzweifelt und auch tapfer gegen einen unsichtbaren Dämon kämpfen und in individueller Bewegungssprache mit rasanten Drehungen, Verschiebungen der Hüften und eckigen Armbewegungen ihre eigene Ordnung finden, erzeugen eine bedrückende Stimmung. Möglich, dass wir fremde Ordnung als Chaos identifizieren, weil wir sie nicht verstehen. Bildteppich von Valter Esposito: Das Chaos ist darunter gekehrt.
Im Zusammenspiel der Künste und Künstler*innen breitet sich der Zerfall aus, wird auch wieder gebremst, sodass sogar Hoffnung aufkeimt. Etwa, wenn gegen Ende Esposito weiße Fahnen schwenkt, sämtliche Mitwirkende die bunten Stäbe, die sich als Metallrohre entpuppen, in Trompeten und Posaunen umfunktionieren und ein chaotisches Konzert veranstalten, das für mich zaghaft Frohsinn versprüht. Der Maler rollt seine auf Papier arrangierten Bilder als Teppich aus, bedeckt damit den Trümmerhaufen, den die Zerstörungswut zurückgelassen hat. Für eine Weile kann die Kunst das Chaos verdecken, kann Poesie ein wenig Trost versprühen. Der Sänger kämpft tapfer gegen das Chaos und das Ende der formidablen und dichten Vorstellung.

Tanz Company Gervasi: „Incorpo-ratis“, Multidisziplinäre Performance. Künstlerische Leitung /Choreografie: Elio Gervasi in Kooperation mit den Tänzer*innen: Federica Aventaggiato, Luna Cenere, Chiara Corbetta, Laurent Delom De Mezerac, Riccardo De Simone, Soul Roberts, Lotta Sandborgh, Lia Ujčič. Unterstützung der choreografischen Komposition: Alberto Franceschini. Performative Intervention: Claudio Covato, Gesang; Valter Espositio, Malerei; Bühne: Valter Esposito, Elio Gervasi. Komposition / Musik: Alessandro Vicard. Licht Markus Schwarz; Dramaturgie und Text: Karl Baratta: Produktionsleitung: Franziska Zaida Schrammel. Uraufführung Wiener Version: 5.12.2019; zwei weitere Vorstellungen am 6. und 7.12.2019. Off Theater.
Fotos: © Niklas Koch.