Zum Hauptinhalt springen

Richard Siegal / Ballet of Difference: „New Ocean“

Ballet of Difference: Tanz auf dem schmelzenden Eis.

Mit einer brandneuen Arbeit war der Choreograf Richard Siegal im Festspielhaus St. Pölten zu Gast. „New Ocean“, kreiert von Siegals Ensemble Ballet of Difference, ist am 27. September im Schauspiel Köln uraufgeführt worden und wurde dort wie auch in St. Pölten freundlich aufgenommen.

Long Zou: Individuelles Solo. Der Titel, „New Ocean“, bezieht sich auf eine Choreografie des Tänzers und Choreografen Merce Cunningham (1919–2009), „Ocean“, die er für einen kreisförmigen Raum konzipiert hat. Die Realisierung war derart kompliziert, weil 150 Musiker um das Auditorium sitzen sollten, dass es drei Jahre dauerte, bis „Ocean“ in Brüssel und Amsterdam aufgeführt werden konnte. Cunningham, einer der innovativsten und überaus experimentierfreudigen Choreografen des zeitgenössischen Tanzes, hatte 19 Abschnitte choreografiert, wobei er ein Zufallsverfahren verwendet hat, das auf dem I Ging beruht. In dem Sprüchebuch gibt es 64 Abschnitte, die Cunningham verdoppelt und so 128 Abschnitte für Solos, Duette, Trios und Gruppenszenen erhalten hat. Von dieser Methode hat sich Richard Siegal inspirieren lassen.Margarida de Abredu Neto, Mason Manning, Jemima Rose Dean: Jede(r) tanzt für sich.

Doch verwendet er nicht das „Buch der Wandlungen“ als Zufallsgenerator, sondern den Computer. Als Basis des Programms dienen ihm die Messdaten der klimatischen Entwicklung der Polarregionen, die er gemeinsam mit dem Licht- und Videokünstler Matthias Singer systematisiert und in choreografische Anweisungen umgesetzt hat. Das System wählt nun für jeden Abend aus dem Katalog Szenen aus, die die Tänzer*innen dann auf der Bühne ausführen. Kein Abend kann dem anderen gleichen. Auch werden immer neue Messdaten eingespeichert, sodass sich der Katalog immer mehr erweitert. Die Tänzer*innen (acht in St. Pölten) symbolisieren quasi das Eis auf den Polarmeeren, das keineswegs kontinuierlich schmilzt, sich ausdehnt und zusammenschiebt, sich teilt und wieder vereint. Wenn einmal das gesamte Eis der Pole geschmolzen sein sollte, dann, so Siegal, „verschwindet auch diese Choreografie“. Eine romantische und auch nicht neue Idee. Ist doch das Flüchtige, das Verschwinden dem Tanz immanent.
Mason Manning, Long Zou: Drehung, Überdehnung, Balance. Neu ist auch die Idee, in einem Zufallsverfahren Szenen für einen Tanzabend aus einem vorhandenen Katalog auswählen zu lassen, nicht. Schon im April 2018 hat der britische Tänzer-Choreograf Wayne McGregor, nur zwei Jahre jünger als Siegal, der 1968 in North Carolina geboren ist, sein abendfüllendes Stück „Autobiography“ im Festspielhaus St. Pölten gezeigt. McGregor hat sein Genom sequenzieren lassen und die Daten in den Computer eingegeben, die an jedem Abend mit Zufallsgenerator ausgewählt und getanzt werden. Einen wesentlich Anteil an „Autobiography“ hat jedoch auch die Musik von Jlin, von der die Tänzer geradezu angetrieben werden.

Siegal verzichtet im ersten Teil gänzlich auf Musik, arbeitet nur mit scharf geschnittenem Licht und der Stille. Andrea Mocciardini,  Mason Manning; Nach der Pause rücken die Tänzer*innen näher zusammen.Die Tänzer*innen treten auf, bewegen sich individuell, sie berühren einander nie, dadurch entsteht eine nahezu unheimliche Spannung und dennoch ist ganz klar, dass diese acht eine Art von Gemeinschaft sind. Manchmal ertönen Gongschläge, die vor allem den Tänzer*innen Struktur und ein Zeitgefühl geben. Das Bewegungsvokabular erinnert stark daran, dass Siegal sieben Jahre lang, bis zu dessen Auflösung, im Ballett Frankfurt von William Forsythe getanzt hat. 2005 war er zehn Jahre Associated Artist bei The Forsythe Company. An Cunningham erinnert bestenfalls der Lichtkreis in der Bühnenmitte, den die Tänzer betreten und verlassen, scheinbar ganz, wie es ihnen beliebt.

Im zweiten Teil unterstützt Musik vom Tonträger die nun dramatisch wirkenden Solos, Duos und Trios. Das multimediale Werk "utp_" des japanischen Komponisten und Pianisten Ryuichi Sakamoto und des Installationskünstlers Carsten Nicolai alias Alva Notow wird vom Ensemble Modern aufgeführt. Lichtdesigner Matthias Singer zaubert mit Videofilmen ein bewegtes Meer mit Eisschollen auf die Bühne, Nebel wallt auf, zeitweise umhüllt ein Lichtdom die Tanzenden, gegen Ende haben sie Schlagschatten unter den Füßen, als stünden sie im Wasser.
Jemima Rose Dean, Andrea Mocciardini, Long Zou: Tanz auf dem Eismeer.Im Grunde ist es gleichgültig, ob ich als Zuschauerin die Voraussetzungen und Entstehungsmodalitäten von „New Ocean“ weiß, verstehe und mitdenke. Ich sehe ein großartiges Ensemble von ebensolchen Tänzer*innen, die sich einzeln als Individuum bewegen, in unglaublicher Biegsamkeit, Verdrehung der Wirbelsäule und Balance, und dennoch eine Einheit bilden. Warum der Choreograf den Computer arbeiten lässt, sich auf irgendwelche Daten von Messgeräten verlässt, verstehe ich nicht wirklich, und so lässt mich auch der Abend kalt. Ich fühle nichts, außer tiefe Bewunderung für die Arbeit der Company. Jemima Rosa Dean, Margarida de Abreu Neto, Claudia Ortiz Arraiza, Mason Manning, Andrea Mocciardini: Romantisch in Nebel und Licht.

Vielleicht hat auch Richard Siegal gespürt, dass Tanz nicht im Kopf sitzen soll und hat deshalb an den Beginn eine Art Schnulze gestellt: „You don’t miss your water“ aus dem Album The natch’l blues von Taj Mahal, eigentlich ein alter Song des Soulsängers William Bell. Der Refrain besingt die späte Reue: „Das Wasser geht dir nicht ab, bevor die Wellen trocken sind.“ Im Lied handelt es sich natürlich um die verpasste Liebe, aber weil Siegel „(the natch’l blues)“ als Subtitel gewählt hat, geht’s eher ums Eis als um der Liebe Wellen.

Richard Siegal / Ballet of Difference am Schauspielhaus Köln: „New Ocen (the natch’L blues). Choreografie & Bühne: Richard Siegal, Kostüme: Flora Miranda; Licht / Video: Matthias Singer; Musik: Alva Noto, Ryuichi Sakamoto; Dramaturgie: Tobias Staab. Tänzer*innen: Margarida de Abreu Neto, Jemima Rose Dean, Gustavo Gomes, Mason Manning, Andrea Mocciardini, Claudia Ortiz Arraiza, Zuzana Zahradníková, Long Zou. Uraufführung: 27. September 2019, Depot 1 / Schauspiel Köln. Einmaliger Gastauftritt im Festspielhaus St. Pölten: 6. Dezember 2019.
Fotots: Thomas Schermer.