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Makemake / Kosmos Theater: „Das grosse Heft“

Die beiden Kinder (Rösler ,Werner) und die Großmutter (Hemmer).

Nach dem Roman „Das große Heft“ von Ágota Kristóf hat Sara Ostertag im Kosmos Theater ein hybrides Stück gebaut, in dem das Eis des Romans durch allerlei Effekte zum Schmelzen gebracht wird. Text und Tanz, Musik und Gesang, buntes Licht und aus der Erde kriechende Körper werden zu einer schrillen Show, die unterhält und das Publikum auch zum Lachen reizt. Schaudern und Schrecken über die Verrohung der Menschen im Krieg, deren Grausamkeit und Brutalität, werden durch komische Effekte und den Einsatz von Farbkugeln verhindert.

Jelena Popržan weckt die Emotionen des Publikums mit Musik und Geräuschen. Es ist ein Hindernis, wenn man Kristófs Roman, einen der wichtigsten des 20. Jahrhunderts, auf Deutsch erschienen 1996, kennt. Die Autorin, in Ungarn geboren und nach der Niederschlagung des Aufstandes 1956 in die Schweiz emigriert, lässt Zwillingsbuben, die die Mutter während des Krieges aus der „großen Stadt“ aufs Land zur verbitterten, bösartigen Großmutter gebracht hat, Aufsätze in ein Heft schreiben. Sie tragen lakonische Titel: „Großmutter“, „der Pfarrer“, „der Winter“, und dürfen erst in das große Heft aufgenommen werden, wenn sie objektiv sind, nur Tatsachen beschreiben und keine Gefühle. Kristóf schreibt nicht in ihrer Muttersprache, sondern auf Französisch, mit der Stimme der Buben, kurze, schlichte Sätze, die gerade durch die lakonische Kälte, die sie ausstrahlen, nahezu unerträgliche Beklemmung, Grauen und Entsetzen auslösen.

Ostertag und ihr Team wollen das nicht, lockern die Auszüge aus den Aufsätzen, die die Buben schreiben, um sich weiterzubilden, mit Showelementen und Musicaleinlagen auf. Es wird Solo und im Chor gesungen, ein Hund wird über die Bühne geführt und liebkost (Die Großmutter schimpft die Kinder: „Hundesöhne“) und ein geigendes Kind lächelt mit silbernem Gebiss. Simon Dietersdorfer, Michèle Rohrbach, Martina Rösler und Jeanne Werner: Die Toten kommen zurück.

Die Kinder, ob es tatsächlich Zwillinge sind, lässt Kristóf in der Schwebe. In den Folgebänden („Der Beweis“, 1988; „Die dritte Lüge“, 1991) wird die Annahme, dass sich ein Kind einen Bruder erdacht hat, um in dieser grauenvollen Zeit, nicht allein zu sein, zum „Wir“ werden zu können. Die beiden sind  bei Ostertag von Beginn an lädiert. Der Erzähler (beeindruckend Schauspielerin Jeanne Werner) ist blind; der andere (die Tänzerin Martina Rösler) ist stumm. Um in Zeiten des Krieges und der Misshandlung bestehen zu können, beginnen sie sich abzuhärten, legen Fasttage ein, beschimpfen und schlagen einander, verlernen Freude und Angst, Liebe und Mitleid zu fühlen, lernen zu töten. Sie kennen keinen Schmerz mehr, auch die Vergewaltigungen nehmen sie mit Gleichmut hin. Gegen die Verrohung der Menschen hilft nur die eigene Gefühllosigkeit.

Die Darsteller*innen agieren mehr oder weniger nackt, sind nur mit Farbe bemalt, mit der sie auch reichlich herumspritzen. Auf der mit Erde bedeckten Bühne kriechen die Geister der Vergangenheit. Im Vordergrund: S. Dietersdorfer.Nanna Neudeck hat die Bühne als Friedhof gestaltet, nach und nach kriechen alle Figuren aus der Erde, die die gesamte Spielfläche bedeckt. Sie kehren auch alle wieder in die Gräber zurück, aus der sie als Geister der Vergangenheit gekrochen sind. Die Musikerin Jelena Popržan ist während der gesamten 80 Minuten in Aktion, mit unterschiedlichen Instrumenten unterstreicht oder konterkariert sie die Erzählung, begleitet die Sänger und den Chor. Filmmusik, alte Schlager, Chansons, und die hüftenschwingenden beiden Männer (Simon Dietersdorf in verschiedenen weiblichen und männlichen Rollen; Martin Hemmer als Großmutter, die im Dorf als Hexe verschrien ist und deshalb einen Besen als Begleiter bekommen hat) lassen das Grauen bunt und angenehm erscheinen.

Wenn Jeanne Werner sich aus der Erde erhebt und die Erzählung beginnt, hat sie genau den gefühllosen, nahezu rezitierenden Ton drauf, in dem das große Heft geschrieben ist. Bühnenzauber mit LIchtspielen und  Farbbomben.Der geht später in den Dialogen unter. Martin Hemmer als Großmutter mit wallenden Locken ist eine keppelnde, kreischende Furie, tritt aus der Rolle, wenn er seinen Auftritt als Schlagerstar hat. Dietersdorf versucht sich im Falsett und mit rollendem R, wimmert und jault, und ich kann mir keinen Reim darauf machen. Die beiden Darsteller sind als Skelett bemalt, sie sind wie auch die ausdrucksstarke Schauspielerin Michèle Rohrbach (Stammmitglied des Kollektivs makemake), die im ersten Teil das hässliche Nachbarmädchen spielt, später selbst zum Hund wird und nach Kriegsende als Mutter die Buben wieder zu sich holen will und all die anderen, die leibhaftig oder in der Erzählung erscheinen, längst tot.

Die Erschütterung, die Kristófs Roman evoziert, will sich im Theater für mich nicht einstellen, ich sehe schöne Bilder und den vollen Einsatz der Darsteller*innen, die auf der Erde kriechen müssen, damit beworfen und bedeckt werden, höre die immer wieder ins Angenehme kippende Musik und spüre nichts.

„Das große Heft“, nach dem Roman von Àgota Kristóf. Regie: Sara Ostertag; Musik: Jelena Popržan; Choreografie: Martina Rösler; Bühne: Nanna Neudeck; Maske / Bodypainting: Nadja Hluchovsky; Dramaturgie: Anita Buchart; Mit Simon Dietersdorfer, Martin Hemmer, Jelena Popržan, Michèle Rohrbach, Martina Rösler, Jeanne Werner, Emma Wiederhold. Koproduktion makemake produktionen & Kosmos Theater. Premiere: 3.12.2019, gesehen am 11.12.2019. Kosmos Theater.
Vorläufig letzte Aufführungen: 12.,13., 14. Dezember 2019.
Fotos: © Bettina Frenzel