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Bijan Moini: „Der Würfel“, eine Dystopie (?)

Bijan Moini, Autor, Jurist, Politologe. © Thomas Friedrich Schäfer, lizenzfrei

Der deutsche Jurist, Politologe und Bürgerrechtler Bijan Moini warnt vor dem Verlust unserer Freiheit durch die Digitalisierung. Er tut dies gleich doppelt: Mit dem Sachbuch „Rettet die Freiheit“ und dem SF-Roman „Der Würfel“. Sachlich und nachweisbar mit "Wekcruf imdigitalen Zeitalter", spannend und aufwühlend im Roman, weil er der Ansicht ist, die Zeit sei knapp. Dabei hält er sich an ein Zitat von George Orwell: „Wenn Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen.“ Was Moini zu sagen hat, sollte gehört werden.

Ein Sachbuch, das habe ich jetzt erfahren, bewirkt weniger als eine Fiktion, die sich an der Wirklichkeit oder an voraussehbaren Möglichkeiten orientiert. Mit wachsender Spannung habe ich „Der Würfel“ gelesen, in dem die Software „der Würfel“, geschaffen von den großen IT-Unternehmen, die Herrschaft über ein Land übernommen hat und genau weiß, wen die Bewohner*innen lieben werden, was ihnen schmeckt, passt und gefällt.
Pepper, der humanoide Roboter, reagiert auf Mimik und Gestik der Menschen, doch selbst fühlt er gar nichts. Er führt Rechenoperationen aus.  © Xavier Caré / Wikimedia CommonsKeine Neuigkeit! Tipps und Hinweise gibt es auch heute schon: Werbejingles und Partnerplattformen wollen wissen, mit wem wir zusammenpassen und was Kinder gerne essen. Doch der Würfel weiß mehr als Amazon und Zalando, und auch die Liebes- und Ehestifter können nur mit jenen Daten operieren, die Gefährt*innen Suchende ihnen anvertrauen. Der Würfel kennt die geheimsten Vorlieben aller Clubmitglieder. Das System beobachtet, ordnet und vernetzt die gespeicherten Daten. Dabei sein muss niemand, doch wer nicht mitmacht, sich nicht durch Smart-Eyes und Smart-Ears lenken lässt, ist ein Paria, lebt von der Mindestsicherung und wird verachtet. Doch auch diese Schar der Aufmüpfigen ist nicht mehr frei, weil ihnen der Zugang zu vielem, etwa dem Aufstieg im Beruf, bestimmten Lokalen und Waren, verwehrt wird.

Das Fatale an dieser Zukunftsvision Moinis ist, dass auch jene, die sich nicht dem neuen, von der Mehrheit der Bevölkerung dieses fiktiven Staats gewählten, System unterordnen wollen, ihre Freiheit verloren haben. Taso wehrt sich gegen das KI-System und wählt seine Kleidung mit seinem Würfel aus. Manchmal sieht er dann aus wie ein Kasperl. © www.kidway.shopkidway shopDie Hauptperson des Romans, der junge Taso, hat wie einst im Krieg seine Fenster mit schwarzem Papier verklebt, damit die Drohnen nicht sehen, was er den ganzen Tag so treibt. Will er aus dem Haus gehen, lässt er seinen kleinen privaten Würfel rollen, um nach den gewürfelten Zahlen seine Bekleidung auszusuchen. Da kann es schon passieren, dass er zur Sommerhose einen Wollpullover tragen muss, denn niemand soll wissen, welche Farben, Schnitte und Moden er bevorzugt. Vermutlich weiß er es selbst nicht mehr. Taso muss von einem Minigehalt leben, hat eine Arbeit, die keineswegs seinen Fähigkeiten entspricht, und kann auch dort nicht aufsteigen. Aufstieg und Wohlhabenheit sind den Systemgetreuen vorbehalten.

Die aber fühlen sich keineswegs gegängelt und unterdrückt, sondern überaus wohl, weil ihnen sämtliche Entscheidungen und auch das Denken abgenommen wird. Deepminds KI-System Alphastar ist bereits etwa 99,8 Prozent aller aktiven Spieler im Echtzeitstrategiespiel Starcraft überlegen.©  golem.de / deviant / mrjackSie treffen nur Menschen, die ihre Meinung teilen, und nicht nur die Freunde werden ihnen serviert. Die Mehrheit lebt gern unter dem scheinbaren Schutz des Würfels, der Bauch ist wichtiger ist als das Gehirn. Die Bürger*innen sind froh, dass andere für sie denken. Auch in der Gegenwart können sich viele damit anfreunden, dass der Staat von einem durch eine künstlichen Intelligenz (KI) gesteuerten System gelenkt wird.
KI sollte eher für „Künftige Informatik“ stehen, denn weder „der Würfel“ noch irgendein anderes KI genanntes System kann selbstständig denken. Grob ausgedrückt ist es ein lernfähiges Computerprogramm, weder magisch noch intelligent. George Orwell, 1940. In seinem aufwühlenden Roman "1984" ist noch keine KI das alles beherrschende System, es ist der Große Bruder. © CC BY 2.0, Cassowary Colorizations / commons.wikipedia.ort Doch kaum jemand in der industrialisierten Welt kommt ohne KI aus: Sprachassistentinnen wie Siri oder Alexa, Chatbots in Hotlines oder personalisierte Angebote im E-Commerce, alles funktioniert mit dem Einsatz Künstlicher Intelligenz. Der Zeitpunkt, an dem Künstliche Intelligenz die menschliche übertrifft (Singularität), und die weitere Entwicklung hauptsächlich von der KI vorangetrieben wird, ist noch weit entfernt.

Dennoch, sich diese Singularität und ihre Folgen vorzustellen, wie es Moini in seinem Roman tut, ist nicht schwer. Moini bleibt beim populären Verständnis von „KI“, wenn er in seinem Roman davon spricht, dass es im Interesse der Multis und der großen IT-Konzernen liegt, uns das Denken abzunehmen. Den Menschen (im Roman) gefällt das, und auch die gewählte Regierung verlässt sich ganz auf die „Intelligenz“ des Würfels, der alle gesammelten Daten vernetzt und daraus logische Schlüsse zieht. Der Würfel, so könnte man sagen, sieht den Menschen in Leib und Seele, kehrt das Innerste nach außen, kennt ihre geheimsten Wünsche und Absichten. Ohne KI (künftige Informatik) funktioniert unsere gewohnte Welt nicht mehr. © www.infopoint-security.deDer Würfe urteilt nicht, denn eine KI hat keine Gefühle und kein Bewusstsein, ist nicht korrumpierbar und handelt nur nach der Moral, die die Programmierer*innen für sie definiert haben. Durch die Kombination von Daten wird der Würfel zur Gedankenpolizei, wem sie unterstellt, Böses im Sinn zu haben, der / die wird ruck zuck aus dem Verkehr gezogen.
Noch sind in funktionierenden Demokratien Gedanken und Wünsche frei, noch kann niemand verurteilt oder bestraft werden, weil sie / er jemanden die Pest an den Hals wünscht, auch wenn solche Gedanken abscheulich sind. Doch die Entwicklung von Programmen zur Früherkennung verbrecherischer Absichten ist nahezu abgeschlossen.

Wozu sich Sorgen machen. Prima Vista klingt das Würfel-System doch recht gut: Nie mehr einen Fehlkauf tun, weil der Würfe weiß, was ich brauche, was ich mag und was zu mir passt; nie mehr Streit, der Würfel zeigt mir die Orte, an denen keine Menschen sind, die ich nicht riechen kann. Dass wir alle mit selbststeuernden Elektroautos fahren, es keine Staus und keine Luftverschmutzung mehr gibt, dagegen kann doch wirklich niemand etwas einzuwenden haben. Auf den Straßen von Shanghai patroulliert ein Polizeiroboter, um Menschen ohne Maske zu orten. Bild und Meldung sind im Portal des russischen TV-Senders RT veröffentlicht. © deutsch.rt.com/kurzclips/98208-wegen-corona-virus-polizei-roboter/Und wenn es ein Café gibt, in dem ich nur nette Menschen treffe und mein Taxler mit meinen Ansichten übereinstimmt, macht das doch die Welt angenehmer.

Zynisch gemeint ist das nicht, auch nicht in (Corona-)Zeiten wie diesen, da die Polizei auch keine Versammlungen und keine Partys mehr duldet, weil unsere Sicherheit (respektive die Sicherheit und Funktionalität des Gesundheitssystems) wichtiger ist, als die Freiheit. Beach-Partys in Florida und die überfüllte Underground noch an Tagen, da die Weltöffentlichkeit vom rasanten Anstieg der Infektion durch das neue Coronavirus wusste, zeigen deutlich, dass die Menschen sich nicht von der eigenen Vernunft regiert lassen, sondern Gesetze und auch Strafen benötigen, um das Chaos zu verhindern. Buchcover: "Rettet die Freiheit!". © AtriumDer Würfel hätte schon viel früher die Grenzen geschlossen und die Türen zugesperrt und das Lieblingsessen davor gestellt und über den Telescreen wird das persönliche Fitnessprogramm von einem KI-gesteuerten Trainer angesagt. Wenn ich mir Blumen zur Aufmunterung wünsche, drücke ich auf den Bestelltknopf, die Klingel ertönt und sie stehen samt Vase bereit. Das wäre doch ein bequemes Leben!

Pardon, diese Überlegungen haben jetzt etwas zu weit weg von Bijan Moinis Gedanken geführt, eher zurück, von der Dystopie in die Gegenwart. Cover von Bijan Moinis SF-Romans "Der Würfel" im Atrium Verlag. © Atrium Schon zeigt diese ersten Anzeichen der von Algorithmen gesteuerten Würfel-Demokratie. Noch, meint Moini, ist Zeit gegenzusteuern, allerdings nur noch fünf Minuten, dann schlägt es zwölf.
Mit dem Sachbuch „Rettet die Freiheit“ will er einen „Weckruf im digitalen Zeitalter“ verbreiten, weil, so sagt er, sowohl der / die Einzelne wie auch die Gesetzgeber etwas gegen die drohende totale Steuerung unseres Daseins durch Algorithmen unternehmen können. So warnt er vor der nonchalanten Haltung, „Meine Daten kann jeder haben, ich habe nichts zu verbergen“, sie ist willkommenes Futter für die IT-Giganten. Er appelliert an die Öffentlichkeit, das Zusammenschließen der großen IT-Unternehmen zu verhindern. Dass etwa Facebook, Instagram und WhatsApp in einer Hand sind, findet er bedenklich.

Natürlich muss auch Moini, der als Anwalt ehrenamtlich für die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) arbeitet, zugeben, dass an der Automatisierung nicht alles verteufelt werden kann, „aber“, so sagt er im Interview mit planet-interview, „es erfordert ein komplett anderes Menschenbild. Und darüber sollte man erst mal diskutieren, bevor man sich darauf einlässt und komplett solch einem System verschreibt.“

Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Unwissenheit ist Stärke

Parolen der inneren Partei, die am Ministerium für Wahrheit prangen. In seinem   Roman „1984“ / „Nineteen Eighty-Four“ aus dem Jahr 1949 sieht George Orwell mit Blick auf die unmittelbare Vergangenheit in die nahe Zukunft. In vielen Teilen lässt sich der Roman nicht mehr als Dystopie einordnen. Im dritten Teil des Romans wird Winston Smith, der Protagonist, umerzogen, und sein Folterer, O'Brien, schildert ihm das künftige Leben:

Es wird keine Liebe geben, außer der Liebe zum Großen Bruder. Es wird kein Lachen geben, außer dem Lachen des Frohlockens über einen besiegten Feind. Es wird keine Kunst geben, keine Literatur, keine Wissenschaft. Wenn wir allmächtig sind, werden wir die Wissenschaft nicht mehr brauchen.

Keine Überraschung, dass Bijan Moini von diesem hellsichtig geschriebenen Buch begeistert ist.
Zum Abschluss noch ein Zitat:

Literatur ist auch heute ein Frühwarnsystem.

Eine Erkenntnis des verehrten und geliebten Literaturkritikers Dennis Scheck.

Lesetipps:
Bijan Moini, Atrium Verlag:
„Der Würfel“, Hardcover, 2019. 400 S. € 22,70.
„Rettet die Freiheit. Ein Weckruf im digitalen Zeitalter.“, Softcover, 2020. 88 S. € 9,00. Auch als E-Book erhältlich.
George Orwell: „!984“, aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Walter, Ullstein Taschenbuchverlag, 5. Auflage, 2017. Gebundene Ausgabe, 544 S. € 12,40.
Ein ausführliches Interview mit Bijan Moini zu den Vor- und Nachteilen Künstlicher Intelligenz: www.planet-interview.de