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Harter Kontrast in der dreifachen Einheit

Die Waldfee (Maria Yakovleva) tanzt mit dem Prinzen (Boris Zhurilov)

Der ungarische Komponist  Béla Bartók erlebt in der Budapester Staatsoper mit dem Ungarischen Nationalballett einen überaus gelungenen Würdigungsabend. Bártok Triptychon nennt der künstlerische Leiter, Tamás Solymosi, die Aufführung von drei Tanzstücken zu Ballettmusik von Bartók. Ein zur Gänze ungarischer Abend, denn auch die Choreografien haben ungarische Künstlerinnen ersonnen und erarbeitet. Musik und Tanz verschmelzen zu einer Einheit, für Heimatschmalz und Chauvinismus ist kein Platz.

„Der wunderbare Mandarin“: Ein seltsamer Fremder, der Mandarin (Iurii Kekalo), erscheint hinter den Grabsteinen und läßt das Mädchen (Lea Földi) nicht mehr aus den Augen.Die dreiteilige Bildtafel besteht aus den beiden Balletten Der wunderbare Mandarin und Der holzgeschnitzte Prinz. Die dritte Tafel ist der Tanz-Suite gewidmet, die Bartók 1923, zum 50. Jahrestag der Vereinigung der Städte Buda und Pest, komponiert hat. Seine Idee war, die charakteristischen Motive der Volksmusik der Ethnien entlang der Donau in einer Folge von Tänzen zu verbinden, um eine Brücke zu bauen. Dieser Gedanke ist heute so gültig und aktuell wie vor 100 Jahren. Die Zuhälter (im Original „Strolche“ genannt) quälen den Mandarin (Iurii Kekalo), doch er kann nicht sterben, bevor das Mädchen Mitleid empfindet.
Die Vielfalt in der Einheit, die Tradition im Neuen, das Verschmelzen von Klassik mit Zeitgenössischem, das sind alles Lebenselixiere nicht nur für den Tanz. Den  drei Bartok-Werken merktt man ihr Alter nict an. Formal wird eine zeitgemäße Tanzperformane gezeigt und der Inhalt der beiden narrativen Stücke  passt in die Rubrik „aktuelle Nachrichen“. Bartóks Musik ist in ihrer Wucht, ihrer Sinnlichkeit und Melodik lebendiger denn vor 100 Jahren. Nur die Asche anzubeten und den Blick nach hinten zu richten, um nicht Vergleichbarem zu begegnen, ist lebendiger Kunst fremd.Das Mädchen (Lea Földi) möchte die Bande (Balázs Majoros, Carlos Taravillo Mahillo, Yago Guerra) verlassen, doch das wird ihr nicht gestattet. Die erste Tafel des Triptychons zeigt die 1926 in Köln uraufgeführte „Tanzpantomime“ Der wunderbare Mandarin.  Die ausdrucksstarke Musik erzählt mit schrillen Tönen, Posaunenglissandi und hämmernden Akkorden die kurze Geschichte überaus plastisch. Eindrucksvoll inerpretiert Lea Földi das Mädchen. Sie muss während der gesamten Zeit auf der Bühne sein.Sie musste nur noch durch den Tanz bebildert werden. Das gelingt der Choreografin, Marianna Venekei (geboren 1967, mit dem Verdienstorden der Ungarischen Republik und dem Seregi-Preis ausgezeichnet), perfekt. Bartók hat sich von einer Großstadt-Geschichte des ungarischen Autors Menyhért Lengyel inspirieren lassen, der von einer Zuhältergang und dem zur Prostitution gezwungenen „Mädchen“ erzählt. Ein geheimnisvoller Chinese verliebt sich das Mädchen, will es retten. Doch die junge Frau fürchtet sich vor ihm. Der Mandarin wird in letzter Konsequenz der Mordversuche aufgehängt, doch er kann nicht sterben, bevor das Mädchen Mitleid empfindet. (Iurii Kekalo, Lea Földi) Er gibt jedoch nicht auf, will sie die Liebe lehren. Die „Strolche“ (so werden Bandenmitglieder bei Bartók genannt) wollen den Fremden töten.  Er aber kann erst sterben, wenn ihn das Mädchen umarmt. Diese Geschichte über die hässlichen Seiten der Zivilisation und der Großstadt ist heute ebenso aktuell wie damals. Venekei, die die schwierige Rolle des Mädchens zu Beginn ihrer Karriere selbst getanzt hat, zeigt dieses gefangen gehaltene und missbrauchte Mädchen als Drogensüchtige, die dem Milieu in der grauen Vorstadt nicht entkommen kann. Endlich fürchtet sich das Mädchen nicht mehr vor dem Fremden, sie wird ihn umarmen, damit er sterben kann. (Lea Földi, Iurii Kekalo)Lea Földi tanzt dieses arme Geschöpf, das endlich ihre Furcht vor dem undurchschaubaren Mandarin überwindet und den Sterbenden in die Arme nimmt, mit beeindruckender Konsequenz. Keine leichte Partie für eine klassisch orientierte Spitzentänzerin. Nicht nur sie, auch diese drei Strolche (eine viel zu harmlose Bezeichnung für die jungen Verbrecher) sind die gesamten 30 Minuten auf der von Gergely Zöldy Z in bedrückend schäbiger Enge gestalteten Bühne in Bewegung. Der prächtige Zuschauerraum der Ungarischen Staatsoper in Budapest, eröffnet 1884. © wikipedia Empathie und Mitgefühl haben in diesen Zeiten wenig Chance. Das Ende ist schrecklich, der Mandarin überlebt zwei Mordversuche, wird schließlich aufgehängt und wartet, dass das Mädchen ihn rettet. Er wird erlöst, doch das Mädchen? Sie kann nicht fliehen, wird weiter gequält werden. Und, man weiß es, sie und die jungen Männer ohne Ziel und Aussicht, sind nur ein winziger Teil der Grausamkeit und des Elends. Iurii Kekalo mimt den Mandarin, im silbrigen Gewand, der einzige helle Fleck im düsteren Ambiente, mit eisiger Miene. Er ist eher ein Schutzengel des Mädchens, der sie aus dem Milieu heraus holen will als ein Mann, der sie mit flammender Liebe begehrt. Als Lichtgestalt taucht er im Hintergrund zwischen den Grabsteinen auf und nähert sich allmählich dem Mädchen. Ohne sich entschieden zu wehren, überlässt er seinen Körper den Folterungen und Mordversuchen der Gang. So kalt wie Kekalo den Mandarin darstellt, entwickle ich auch keinerlei Gefühle für diese Gestalt aus einer anderen Welt, doch des Mädchens Schicksal greift ans Herz und ich möchte helfen, obwohl ich weiß, dass wir alle der schwarzen Seite gegenüber hilflos sind. Die Prinzessin (Ellina Pohodnih) verwechselt eine Holzfigur in Prinzenkleidern mit dem lebenden Prinzen.Wie schön und tröstlich, dass nach der Pause ein Märchen erzählt wird, in dem mit einem langen Kuss das baldige Hochzeitsfest angekündigt wird. Der holzgeschnitzte Prinz, von Bartók nach einem Libretto des bekannten Filmexperten und Autors Béla Balázs während des ersten Weltkriegs komponiert, kann als Trost in schlimmen Zeiten gesehen werden. Die Natur spielt eine wichtige Rolle in dieser Liebesgeschichte zwischen einem Prinzen und einer Prinzessin, die von einer „Feenhexe“ gestört wird, doch nicht verhindert werden kann.  Zum Verlieben: Motomi Kiyota tanzt den hölzernen Prinzen.Der „verdienstvolle“ Tänzer und Seregi-Preisträger, László Velekei (* 1978) hat die Choreografie für dieses nach dem Horror im Verbrechermilieu der Großstadt so lieblich wirkenden Balletts übernommen. Velekei hat sich nach dem Ende seiner Karriere als Tänzer dem Gestalten von Balletten gewidmet und ist seit 2020 Direktor der renommierten Ballettcompagnie in Győr. Sein choreografisches Vokabular beschreibt er als neoklassisch. Die zahlreichen Inszenierungen, die es für dieses auch für Kinder geeignete Ballettmärchen gibt, haben ihn nicht beeinflusst, Velekei orientierte sich an der Dramaturgie und den musikalischen Kürzungen László Seregis von 1970, verlangt jedoch die von Bartók vorgeschriebene große Orchesterbesetzung. Bartóks Begabung, mit Musik Geschichten zu erzählen, Gefühle zu wecken und Bilder zu malen ist auch im holzgeschnitzten Prinzen festzustellen. Im Wald tanzen nicht nur die Fee und  der Prinz (rechts), sondern auch die Bäume. Gestaltet hat den schönen Wald Bühnenbildner István RózsaLászló Velekei lässt in seiner Choreografie den Wald nahezu riechen, es ist Frühling auf der Bühne und die Bäume tanzen als fröhliche Diener der gar nicht bösen Fee, die, wie es sich herausstellt, den Prinzen (Boris Zhurilov) lieber für sich haben will, als ihn der Prinzessin zu gönnen. Ein Baum wird geopfert und zum hölzernen Prinzen geschnitzt und bekommt des Prinzen Krone. Die tanzende Fee ist natürlich ein besonderes, auch zweischneidiges Erlebnis für die Gäste aus Wien. Freude am perfekten Tanz auf Halbspitze mischt sich mit Trauer und Ärger über den Verlust. 12 Jahre lang erfreute Maria Yakovleva als Erste Solotänzerin die Wiener Ballettfans. Elena Shapiro tanzt ein anmutiges Solo.Ob als Kitri in Don Quixote, als Odette / Odile in Schwanensee oder Mary Vetsera in Mayerling, stets zeigte sie Einfühlsamkeit, Präzision und Bühnenpräsenz. All diese wunderbaren Rollen zeigt sie seit 2022 auf der Bühne der Budapester Oper. Warum niemand die Künstlerin, die seit 2005 der Wiener Company Glanz verliehen hat, aufgehalten hat, weiß außerhalb der Wiener Ballettdirektion wohl niemand. Ab März steht im Budapester Opernhaus Kenneth McMillans realistisches Ballett (true crime ohne Lösung) Mayerling im Programm, Yakovleva wird Mary Vetsera tanzen. Noch aber wird das Bartók-Triptychon getanzt und die „femal Principal Yakovleva Maria" interpretiert die elegante Waldfee. Die Uraufführung der Choreografie von László Velekei hat bereits in der vergangenen Saison, im Frühjahr 2023, stattgefunden.Nach der fröhlichen Tanz-Suite im Volkston verneigen sich (nicht nur) die Solistinnen.  Überaus entspannend war der Abschluss des Dreiteilers, die Tanz-Suite. Bartók komponierte fünf kleine Skizzen mit einem rasanten Finale, das in einem Kreistanz alle Themen nochmal anklingen lässt. Es gibt kaum einen ungarischen Dirigenten, der diese Tanz-Suite nicht mit renommierten Orchestern aufgenommen hat. Ungarische Pianisten interpretierten ihre Version auf dem Flügel. Nur auf der Bühne hat sich die Tanz-Suite noch nicht durchgesetzt, alle choreografischen Versuche blieben erfolglos, verschwanden nach der ersten Vorstellung von der Bühne. Ein rasanter Pas de deux als Teil der „Tanz-Suite“.Ein Glück für den Choreografen Kristóf Várnagy. Er hat keine Vorbilder, mit denen er konkurrieren muss. Várnagy hat mit dem Cullberg Ballet und auch im Königlichen Schwedischen Ballett getanzt, sich aber später dem Zirkus zugewandt und ist jetzt Mitglied des ungarischen Neuen Zirkus Recirquel, der durch die ganze Welt tourt. Für seine erste Arbeit mit dem ungarischen Nationalballett hat er sich auf seine Ballettwurzeln besonnen und zeigt Gruppentänze, Pas de deux und auch ein Solo. Auffallend sind die volkstümlichen Kostüme von Zita Bélavári mit plissierten Röcken, die am Saum mit einer großen Rüsche geschmückt sind. Die Männer tragen weiße Hosen, die unter dem Knie gebunden sind. Ein erfreulicher Anblick und eine Musik, die fröhlich macht.
Entsprechend enthusiastisch war auch der Applaus im Opernhaus.

Triptychon: Drei Ballette zur Musik von Béla Bartók  
Der wunderbare Mandarin, Choreografie von Marianna Venekei, Uraufführung
Der holzgeschnitzte Prinz, Choreografie von László Velekei Tanz-Suite, Choreografie von Kristóf Várnagy, Uraufführung
Premiere von Triptychon: 3. Februar 2024. „Dance Triptychon“: Drei Ballette zur Musik von Béla Bartók (Plakat).© „Dance Triptychon“: Drei Ballette zur Musik von Béla Bartók. © Plakat / Mátai és Végh Kreatív Műhely, Kohán József, Plette Bulcsú Das ungarischen Nationalballett in der Ungarischen Staatsoper, Budapest;  
Dirigent des Opernorchesters: Gergely Vajda.
Gesehen am 10. Februar 2024.
Fotos: © Valter Berecz