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Marco Goecke, Remedium gegen Langeweile

„Fly Paper Bird“: Ein Ballet weckt Emotionen.

Der dreiteilige Ballettabend mit dem Titel „Im siebten Himmel“ birgt das Highlight zweier Saisonen: Marco Goeckes für das Wiener Staatsballett geschaffene Ballett „Fly Paper Bird“. Die Uraufführung war am 14. November 2021. Seitdem wurde „Fly Paper Bird“ siebenmal gezeigt, eine 9. und letzte Aufführung zeigt das Staatsballett am 13. April 2023. Danach gibt es mit der einzigen Premiere in der zweiten Halbzeit dieser Saison nur noch zwei Werke aus den Archiven Alter Meister.

„Fly Paper Bird“: Daniel VizcayoWas hat der seit der Spielzeit 2020/21 amtierende Ballettdirektor (und Chefchoreograf) Martin Schläpfer nicht alles volltönend versprochen! Von „Aufbruch, Reibung und neuen Akzenten“ erzählt er im Frühjahr 2020 dem Standard und bekennt freimütig: „Und ich finde schon, dass eine Weltcompagnie von dieser Größe auch ganz klar den zeitgenössischen Tanz repräsentieren soll.“ Die Mehrheit der jungen Choreografen konstruiert ihre Kreationen eher für kleine und mittlere Gruppen. Die Größe der Wiener „Weltcompagnie“ hat keine Relevanz für den zeitgenössischen Tanz. Marco Goecke, der mich mit seiner Choreografie zum Nachdenken über den Unterschied zwischen verkündeten und verwirklichten Plänen angeregt hat, beschäftigt gerade mal vier Tänzerinnen und sieben Tänzer für seine Wiener Kreation. Duccio Tariello, Davide Dato, Marcos Menha: Verschreckt, verzweifelt, doch nicht hoffnungslos.
Sei’s drum: Für den Direktor bedeutet „zeitgenössisch“ ohnehin nicht aktuell, heutig, kürzlich aus der Taufe gehoben oder gar im Ballettsaal geboren, sondern altbacken, aber hochgelobt, bekannt, doch mit Bart, gewohnt und kompatibel auch für Ballettferne, Wien Besucher:innen, die einen Abend in der Oper im Reiseprogramm haben oder die Jugendgruppen auf den Rängen. Goecke ist da der Glücksfall, der die Regel bestätigt.
In einem Abschiedsinterview spricht Schläpfer in Düsseldorf von seiner Absicht, die Compagnie „zum Brennen zu bringen“. Choreograf Marco Goecke, fotofrafiert von Regina Brocke (©)Ballettfreund:innen, die Legris zu tiefe Nurejew-Verehrung, zu viele Klassiker und zu wenig Neues vorgeworfen haben, sehen Licht am  Horizont. Zur Verteidigung von Legris Programmierung ist nicht vielmehr notwendig als ein paar Namen. Stephan Thoss, Christopher Wheeldon, Alexander Ekman etwa, Edwaard Liang, Daniel Proietto oder Edvard Clug. Alles, aber nicht alle, Choreografen, die Legris nach Wien geholt hat. Er war kein Chefchoreograf, hat erst gegen Ende seiner Amtszeit Choreografieversuche gewagt und musste die Konkurrenz junger Choreografen nicht fürchten. Es geht hier nicht um die Qualität der gezeigten Choreografien, denn gerade bei für und mit Compagnien geschaffenen Werken kommt es ja oft anders, als man erhofft. Es geht ganz allein um eine frischere Generation von Tanzschaffenden (Wheeldon und Clug, die Ältesten, und daher auch bekanntesten der Genannten, sind heuer gerade 50 geworden), die in der Ära Legris mit dem Staatsballett zeitgenössische Choreografien gezeigt haben. „Contra Clockwise Witness“, Choreografie von Natalia Horečná mit Andrey Kaydanovskiy und einer Engelschar.Die Ballette, abendfüllend oder als Drittel eines Abends, waren alle kurz vor ihrer Präsentation in Wien uraufgeführt worden. Achtung! Beinahe wäre ich in die Männerfalle getappt, es sind noch immer zu viele – wie man’s nimmt, Fallen oder Männer an der Macht, auch im Ballett. Aus der Peinlichkeit heraus gekrabbelt. Rechtzeitig noch ist mir Natalia Horečná eingefallen. Mit „Contra Clockwise Witness“ hat die ehemalige Tänzerin im Hamburg Ballett (John Neumeier) 2014 die Wiener Compagnie richtig in Schwung gebracht. Natalia Horečná war damals 38 Jahre alt und bereits international erfolgreich.
Und jetzt die Beispiele für die Saison 2022/23 unter Martin Schläpfer: Bereits gesehen: Werke von Paul Taylor (1930–2018) und Mark Morris, mit 67 vergleichsweise blutjung, sind in der Volksoper unter dem Dach „herausragende Meister der amerikanischen Moderne“ präsentiert worden, dazwischen hat der Chefchoreograf zwei seiner älteren Werk untergebracht. Mark Morris: „Beaux“: Die Beaux, die Schönlinge oder Playboys. In Wien würde man die Bürschchen in ihren bunten Kostümen heute Bobos nennen. Lucinda Childs, die überaus agile 82-jährige Amerikanerin, durfte ihr 1993 entstandenes „Concerto“ einstudieren; Anne Teresa De Keersmaeker, auch schon 63, hat versucht, mit dem Staatsballett ihre 1992 entstandene Choreografie „Große Fuge“ zu vermitteln. Am 27. April erwartet das Ballettpublikum zwei weitere Werke Alter Meister: Heinz Spoerli, ehemals Chef des Tänzers Martin Schläpfer in Basel, zeigt seine tänzerische Interpretation von J. S. Bachs „Goldberg Variationen“, entstanden 1993. Eine Hommage an den 83-jährigen Choreografen. Davor muss sich das Staatsballett mit Gaga auseinandersetzen, der Bewegungssprache des israelischen Tänzers und Choreografen Ohad Naharin, 71. Choreograf Ohad Naharin: Sein Ballett "Tabula Rasa" demnächst in der Staatsoper. Quelle pinterest / tanecniaktuality.czKeine halbe Stunde dauert seine Choreografie zu Arvo Pärts (*1935) Komposition „Tabula Rasa“. Kein Wort gegen all die alten Meister und Meisterinnen und ihre wunderbaren Stücke, doch zum Brennen bringen sie wohl weder Tänzer:innen noch Publikum. Ballett- und Tanzinteressierte kennen ihre Kreationen, haben viele Werke sogar mit den Originalcompagnien gesehen, im Tanzquartier, im Festspielhaus St. Pölten oder während des ImPulsTanz Festivals. Muss das Staatsballett in Konkurrenz mit diesen Häusern treten? Wenn es doch einen Ekman, einen Wayne McGregor (auch von ihm war ihn Wien bereits ein Werk zu sehen) oder Eric Gauthier oder, direkt vor der Haustür, Eno Peçi und Andrey Kaydanovskiy, gibt?
Ein Trost für Tanzaffine, die gern etwas riskieren, die sich nicht von hübschen Stücken einschläfern lassen wollen, sondern auch hin und wieder Furcht und Schrecken aushalten, ist immer wieder der fliegende Papiervogel, der am Ende auch sichtbar wird. Goeckes Choreografie ist von Ingeborg Bachmanns Gedicht „Mein Vogel“ inspiriert, und er lässt eine Tänzerin, eng an den Partner geschmiegt, auch einige Textzeilen daraus flüstern. Verstehen muss man sie nicht, doch man kann das Gedicht im Programmbuch nachlesen. Marco Goecke kennt keinen Geschlechtsunterschied: Frauen wie Männer sind in den gleichen dunklen Kostümen und machen die gleichen Bewegungen.Wie viele seiner renommierten Kollegen hat Goecke den Zenit erreicht. Da hält man sich gemeinhin eine Zeitlang, doch nicht für immer.
Warum für diesen Abend, der immerhin neben einem aufgefrischten, vor mehr als 15 Jahren für das Ballettmainz zu Musik der Strauß-Familie geschaffenes Werk des Chefchoreografen auch ein Ballett von Balanchine zur bezaubernden „Symphonie in C“ des 17-jährigen Studenten Georges Bizet inkludiert hat, ein Dirigent verpflichtet ist, der mit dem Tanz und auch der Compagnie nicht wirklich vertraut ist und außerdem nicht immer Zeit hat, sodass bei manchen Terminen ein anderer einspringen muss, ist mir nicht erklärbar.Helen Clare Kinney vor Daniel Vizcayo in Marco Goeckes für Wien geschaffenes Ballett „Fly Paper Bird“. Es zeigt vor allem die mangelnde Wertschätzung der Tänzer:innen und auch des Publikums. International renommierte Ballettdirigenten sind kaum noch im Orchestergraben zu sehen. So nimmt es auch nicht Wunder, dass in der vom Choreografen verlangten Stille zwischen den beiden Sätzen aus Gustav Mahlers 5. Symphonie ­ „Mit größter Vehemenz“ und „Adagietto. Sehr langsam“ – die Hälfte des Orchesters ohne sich zu genieren den Orchestergraben verlassen hat. Den Dirigenten scheint das nicht gestört zu haben, doch das Publikum, das diesen auffallenden Exodus beobachtet hat, sah das Ende gekommen und begann mit dem Schlussapplaus. So kann man ein wunderbares Stück auch ruinieren. Im Adagietto sind nur die Streicher und eine Harfe verlangt, müssen aber deshalb die Herren und möglicherweise auch Damen deshalb ihren Platz verlassen? Wieso duldet das der musikalische Leiter? Ach so, Ehre wem Ehre gebührt: Das Staatsopernorchester, ganz oder dezimiert, wurde von Patrick Lange geleitet. Seiner Biografie ist zu entnehmen, dass sein Haupttätigkeitsfeld die Oper ist. Für die letzte Vorstellung in dieser Saison des Programms „Im siebten Himmel“ wird Jendrik Springer, Hauptbetätigungsfeld: das Piano, als Dirigent genannt.

Marco Goecke: „Fly Paper Bird“, Mittelstück im dreiteiligen Abend „Im siebten Himmel“. Uraufführung. 14. November 2021. Gesehen: 8. Vorstellung am 10.4.2023. Wiener Staatsballett in der Staatsoper.
Musik: Gustav Mahler, „Stürmisch bewegt“ und „Adagietto. Sehr langsam“ aus der Symphonie Nr. 5 cis-Moll von Gustav Mahler. Bühne und Kostüme: Thomas Mika.
Tänzerinnen, Tänzer: Sveva Gargiulo, Adi Hanan, Helen Clare Kinney, Fiona McGee, Davide Dato, Lourenço Ferreira, Marcos Menha, Kristián Pokorný, Duccio Tariello, Arne Vandervelde, Daniel Vizcayo.
Musikalische Leitung: Patrick Lange, Orchester der Wiener Staatsoper.
Letzte Vorstellung in dieser Saison 13. April 2023. Die Besetzung ist dieselbe. Der Dirigent ist ein anderer.
Nächste Premiere: „Goldberg Variationen“ (Ohad Naharin, Heinz Spoerli), 27. April 2023, Staatsoper.
Fotos:  Ashley Taylor, Michael Pöhn (verschiedene Vorstellungen)