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Fromme Schafe und Individualisten in der Bar

Als Gesuino Némus durchschaut Autor Matteo Locco seine Landsleute.

Der italienische Autor Matteo Locci, geboren 1958 in der sardischen Gemeinde Jerzu / Provinz Ogliastra, dort wo der berühmte Cannonau gekeltert wird, hat sich eine zweite Identität zugelegt, um unbefangen und keck seine Heimat, die Insel Sardinien, mitsamt den Bewohnern zu preisen. Er nennt sich Gesuino Némus und schreibt anstatt Kinderbücher Romane für alle über 16. Darin wird zwar gemordet, aber häufiger noch in der Bar gesessen, um Geheimnisse auszutauschen. Gesuino Némus ist der Autor von einzigartigen Kriminalromanen, die ohne Krawall und Verfolgungsjagden auskommen. und wenn der Polizist in die Bar kommt, wird ihm zwar nicht die Wahrheit, aber ein Kaffee serviert, kalt, wie er ihn liebt. Dass Dorfpolizisten und Carabinieri auf Mördersuche sind, die manchmal echte Verbrecher, doch meistens nur unglückliche Väter, Hirten, oder schlicht Gerechtigkeitsfanatiker sind, vergisst man bei all den schrulligen Details, die der Autor anbietet.

Sardinien, ein Paradies für Naturfreunde. Auch die scheue Mauereidechse liegt hier gern in der Sonne. © wikipedia / gemeinfreiOrt jeder Handlung ist das fiktive Dorf Telévras, nahe Jerzu in der Provinz Ogliastra. Telévras liegt mitten in den Bergen, entfernt von der Smaragd-Küste, Touristen kommen nur irrtümlich hin, doch ein Gewehr haben alle Männer unter dem Bett oder hinter der Tür. Geschossen wird nicht nur auf Wildschweine. Schließlich haben die sardischen Hirten und Bauern ihren eigenen Begriff von Recht und Moral, der sich vom allgemein üblichen etwas unterscheidet.
Über GeIhalsuino Némus gibt es allerhand zu sagen, denn er existiert doppelt. Der eine ist der lebendige Autor der Sardinien-Krimis, von denen es in Italien bereits fünf gibt, drei sind inzwischen übersetzt. Der andere ist ein Held des Romans, ein Dichter und Denker, der beobachtet, aber nicht unbedingt sichtbar ist. Beide, der lebendige Autor und sein Doppelgänger, lieben das Land und die Leute.
Jeder Schuss ein Treffer, das heißt richtig: jeder Band ein Bestseller. Cover der italienischen Ausgabe von „Die Theologie des Wildschweins“. © elliotedizioni.comIm ersten Band, „Die Theologie des Wildschweins“, ist Gesuino Némus noch ein komisches Kind, das vom Pfarrer beschützt wird. Ein Hochbegabter, der zwar nicht spricht, aber lesen kann und später Bücher schreiben wird und, auch wenn ihn alle für einen Trottel halten, die komplizierte Geschichte durchschaut und am Ende sogar mehr weiß als die Leserin.
Der erste Band spielt 1969, doch schon im zweiten („Süße Versuchung“) hat Gesuino (der Autor) die Handlung in die Gegenwart katapultiert und Gesuino (die Romanfigur) ist ein Mann im besten Alter. Mutig, fast blasphemisch ist  dieser Cover für den dritten Band, „Il catechismo della pecora". Und das im katholischen Italien. © ellioteidizioni.comEr altert mit jedem Roman mit und taucht oft auch nur sporadisch auf, ob man ihn erkennt oder nicht, ist für die Handlung nicht relevant, eine Bekanntschaft erhöht jedoch das Vergnügen an den verzwickten und vertrackten Geschehnissen in und um Telévras erheblich. Auch Stammgäste der Bar und der Besitzer haben gewechselt, die alten sind gestorben, die neuen sind auch schon alt, doch sperrig und eigenbrötlerisch, verschwiegen oder geschwätzig wie eh und je.
Inhalte wiederzukäuen ist bei einem Krimi überflüssig, und, was die sardischen Superkrimis betrifft, auch unmöglich, die Plots sind verwickelt und undurchsichtig und schwierig zu entwirren. Es geht auch weniger um die Leichen, die im Weg liegen, sondern um die Menschen auf der Insel. Um den Pfarrer und den Lehrer, der in „Die Frömmigkeit der Schafe“ (Band 3) eine wichtige Rolle spielt, den Dorfpolizisten und den Carabiniere samt den Chefs darüber, die ihre Fäden nach Rom spinnen, umDer Eisele Verlag bleibt zurückhaltend bei der Covergestaltung. @ Eisele die Insel möglichst bald wieder verlassen zu können. Die Schafe, die in der Bar von Samuele, dem Umschlagplatz von Neuigkeiten, sitzen, sind keineswegs fromm und im dritten (aktuell übersetzten) Band spielt eine veritable Spionin die Hauptrolle. Doch die geheimnisvolle Mariàca, die nach Paris ausgewandert sein soll, bleibt bis zum Grande Finale unsichtbar.  Zum Ausgleich erfährt man so mancherlei über das Leben auf der Insel und die Vorlieben der Bewohner, was Essen und Trinken betrifft. Dass sie alle Separatisten sind und mit der Hauptstadt auf dem Festland im Clinch liegen, ist bekannt. Die Grenache-Traube, aus der auch der von den sardischen Hirten, Priestern und Postboten geliebte  dunkelrote Cannonau gepresst wird. @ wikipedia / gemeinfreiDass die Touristen gebraucht, jedoch unwillkommen sind, kann man sich vorstellen. In Telévras werden sie herbeigesehnt und gleichzeitig abgelehnt, wie Investoren, die Arbeitsplätze schaffen sollen. Die realen Probleme stehen jedoch nicht im Vordergrund der launigen Erzählungen, die vom Humor und der Ironie des verschmitzten Autors, zugleich der Dorfdichter, überstrahlt wird.
Eine Besonderheit des Autors ist, dass er die Erzählung mit ganzen Phrasen in Sardisch (Sardu) würzt, einer romanischen Sprache, die Festlanditalienern ebenso unverständlich ist, wie des Italienischen nicht Mächtigen. Die sardischen Ausdrücke und Sätze werden übersetzt oder auch nicht, was den Romanen eine besondere Authentizität verleiht. Zwei Bände sind exzellent von Sylvia Spatz übersetzt, den 2. Band, „Süße Versuchung“, hat Juliane Nachtigall übersetzt, was nicht so gut gelungen ist, wie die Arbeit von Sylvia Spatz. Nemus fregula Zum Wein passt eine Schüssel sa frégula, geröstete Nockerl aus Hartweizen, in Fischsuppe mit geheimnisvollen Zutaten gegart. Eine echte Delikatesse. © wikipedia / gemeinfrei, gerötenSchon der Titel, der an ein Rezept für Punschkrapferl denken lässt, ist misslungen. Im Original heißt Band zwei „Ora pro Loco“, mit minimalen Kenntnissen in der lateinischen Sprache lässt sich das mit „Bete für den Ort“ übersetzen. Doch steckt mehr dahinter, „Pro loco“ werden in ganz Italien die örtlichen, auf Initiative der Bewohner:innen entstanden Organisationen genannt, die sich um die Pflege der Tradition, die Förderung der lokalen Gastronomie und des Kunsthandwerks kümmern. Im 2. Band, „Ora pro loco“, geht es um Pläne, um den Tourismus anzukurbeln. Auch dabei kommen die Bewohner von Teléfras nicht ohne Leichen aus.  © elliotedizioni.comHeimatvereine also sind es, für die gebetet werden soll. Einen allgemein verständlichen Titel auf Deutsch aus diesem doppelsinnigen Titel zu finden, erfordert einiges Nachdenken. Doch die Titel der Originalausgaben folgen einem System, und das einzuhalten, wäre im Sinne des Wiedererkennens wichtig. 
Als Gesuino Némus ist der Schriftsteller Matteo Locci selbst ein überaus erfolgreicher Einmann-Heimatverein. So tief und mit so viel Liebe und Wärme dringt keine Urlaubsgesellschaft in die Insel, die viel mehr zu bieten hat als überlaufene Buchten am Meer.
Der dritte übersetzte Band ist mit Vorsicht zu genießen. Sagt der Autor. Cover des 2. Bandes, dessen Titel mit „Süße Versuchung“ übersetzt worden ist. @ Eisele„Alle drei bis vier Stunden eine Seite lesen, nicht unmittelbar vor und nach den Mahlzeiten. Kann abführend wirken und zu Gewichtsverlust führen.“ Da schwindelt der Autor, Gewichtsverlust war nach der pausenlosen Lektüre, auch während der Mahlzeiten, keiner festzustellen. Allerdings hat er mit den angeführten „Nebenwirkungen“ recht, denn diese hat er selbst eingefügt. „Metonymien, Synästhesien oder Chiasmen“ bevor man sich den Kopf über den Fremdwortwuchs zerbricht, gleich an das zuständige Labor wenden.
Auch wenn die Italiener etwa frecher sind in der Covergestaltung der kriminalistischen Sardinien-Serie, so lässt sich der Münchener Eisele-Verlag, 2016 von Julia Eisele gegründet, nicht lumpen. Sowohl das Cover-Bild wie auch die Innenseiten des broschierten Umschlags sind hübsch gestaltet. Im Text bieten Vignetten, im aktuellen Band natürlich ein Schaf mit Heiligenschein, eine fröhliche Ergänzung des virtuellen Besuchs beim Inselvolk.

Gesuino Némus, Sardinien-Krimis im Verlag Eisele:
„Die Theologie des Wildschweins“ / „La teologia del cinghiale“. Aus dem Italienischen von Sylvia Spatz, 2021.  288 Seiten. € 16,50. Auch als E-Book erhältlich. 
„Süße Versuchung“ / „Ora pro loco“. Aus dem Italienischen von Juliane Nachtigal, 2022. 307 Seiten. € 17,50. Auch als E-Book erhältlich. 
„Die Frömmigkeit der Schafe“ / „Il catechismo della pecora“. Aus dem Italienischen von Sylvia Spatz, 2023. 287 Seiten. € 17.50. Auch als E-Book erhältlich.