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„Angeschlossen und gleichgeschaltet“, Sachbuch

Zu Beginn der 1980er-Jahre fand Klaus Christian Vögl in den Räumen der Wiener Wirtschaftskammer einen Stahlschrank, der über Jahrzehnte übersehen worden war. Was sich darin befand, kann in der Rückschau als historischer Fund in der österreichischen Kinoforschung bezeichnet werden.

Die erhaltenen 200 Akten, wohl sortiert in blauen und orangen Personalakten des NS-Regimes sowie der 1945/46 neu errichteten Fachgruppe, hat Vögl in über 35-jähriger wissenschaftlicher Arbeit akribisch gesichtet, systematisiert und für eine breite Öffentlichkeit zusammengefasst. Die daraus entstandene Publikation „Angeschlossen und gleichgeschaltet“ liest sich wie ein Krimi. Klaus Christian Vögl, Jurist, Historiker und Autor von Fachbüchern. © privatIm Gespräch mit Angela Heide erzählt der Jurist und Historiker vom ungewöhnlichen Beginn seines „Lebenswerkes“ und einige der Ergebnisse seiner jahrzehntelangen Forschungstätigkeit.

Angela Heide: Erinnern Sie sich noch an den Beginn Ihrer Arbeit zur österreichischen Kinogeschichte während des NS-Regimes?

Klaus Christian Vögl: Mir wurde 1981 hier in der Handelskammer die Betreuung der Wiener Kinos übertragen. Das war für mich eine große Freude, da ich mich immer schon für Kinos interessiert hatte und dieses Wissen nun auch beruflich einbringen konnte. Die Handelskammer befand sich damals noch am Stubenring, und in einem der Besprechungszimmer ist mir sofort ein riesiger grüner Stahlschrank aufgefallen, der offensichtlich noch aus der Vorkriegszeit stammte und den bis dahin niemand beachtet hatte. Der Schrank hatte wie durch ein Wunder mehrere Übersiedelungen überlebt, zuletzt jene von der Siebensterngasse auf den Stubenring.
Darin befunden haben sich blaue und orange Mappen. Die blauen Mappen umfassten Akten ab 1945, und 1946 wurde dann auch die Fachgruppe der Lichtspieltheater, gemeinsam mit der Handelskammer, wiedererrichtet. In den Akten zur Nachkriegszeit findet man u. a. auch Restitutionsansuchen und Schriftverkehr mit emigrierten Kinobesitzern bzw. -betreibern. Die orangen Mappen enthielten Kinoakten der Reichsfilmkammer, die 1945, wohl aus Versehen, nicht vernichtet worden waren. Und hier hat dann meine Arbeit angesetzt.

Inwieweit sind damit alle Wiener Kinos abgedeckt?

Von den 220 nachgewiesenen Kinos der Zeit fanden sich im Schrank 200 Aktenkonvolute. Diese betreffen nicht nur „arisierte“ Kinos, sondern die gesamte Kinolandschaft. Die fehlenden 20 Akten wurden 1945 von den damaligen Betreibern persönlich abgeholt – und zwar gegen „Sachspenden“. Kino Café Reklame © ArchivMan nannte sie später in der Branche die sog. „Schmalztiegelakte“.

Haben Sie auch andere Archive besucht?

Ich habe alle Archive in Österreich besucht, in denen ähnliche oder Pendantakten zu finden hätten sein können. Doch tatsächlich fanden sich alle Akten, mit Ausnahme von Vorarlberg und Tirol, in diesem Schrank, dessen Inhalt 2016 vom Wiener Stadt- und Landesarchiv übernommen wurde.

Die Akten enthalten umfassende Unterlagen zu den damaligen Besitzer*innen, Konzessionär*innen und Betreiber*innen?

Genau. Sie finden darin den Weg, wie jemand überhaupt eine Spielberechtigung erhalten hat. Diese Personalienbögen sind ja insofern schon sehr interessant, da jeder Bewerber darin seinen Werdegang beschreiben musste. Und natürlich haben dann viele darauf hingewiesen, was sie bereits alles für den illegalen Nationalsozialismus geleistet hatten.

Wie hat die „Arisierung“ von Kinobetrieben konkret ausgesehen?

Zuerst hat die Reichsfilmkammer eine Bestandsaufnahme in Auftrag gegebenen, die raschestmöglich herausfinden sollte, bei welchen Kinos sich „jüdischer Einfluss“ nachweisen ließ. Das konnten ein Besitzer, ein Anteilsinhaber, ein Konzessionär oder auch Pächter und Geschäftsführer sein. Schnell war klar, dass es sich hier um nahezu 50 Prozent der Kinos handelte, und sobald diese Daten vorlagen, wurde in einem zweiten Schritt die „Arisierung“ durchgeführt. Für diese konnten sich dann Personen bewerben, wobei in diesen Fällen die Kriterien sehr streng waren, sodass sich für die knapp 90 nachgewiesenen Kinos um die 500 Bewerber einfanden, die dann für die jeweiligen Kinobetriebe jeweils für nur den Bereich beantragen konnten, der zu vergeben war. Ausgewertet wurde mit einem „Punktesystem“, wobei schon im Vorfeld bekannt wurde, welche Kriterien besonders wichtig waren.

Haben sich die künftigen „Ariseure“ für jeweils ein bestimmtes Kino oder allgemein „beworben“?

Man konnte sich sowohl für ein bestimmtes wie auch ganz allgemein bewerben, ja, manche schrieben ganz offen, sie wären gerne „durch ein Kino versorgt“. Die Zuweisungen erfolgten durch eine sogenannte Arisierungskommission, und es gab dann auch Personen, die sich für ein konkretes Kino beworben hatten, aber ein ganz anderes Kino zugewiesen bekamen.
Es gab richtige Grabenkämpfe, und Personen mit guten Kontakten zu politisch entscheidenden Stellen hatten freilich mehr Chancen, auch wenn es das erwähnte Punktesystem gab, das, um es noch einmal zu betonen, nichts mit Erfahrungen im Film- oder Kinogeschäft zu tun hatten.

Das heißt, viele der neuen Kinobetreiber*innen hatte gar keine konkreten Vorstellungen, wie sie den zugewiesenen Betrieb leiten würden. Wer leitete in diesen Fällen dann das Kino weiter?

Oft gab es einen Partner, der entweder bereits im Kino tätig war oder auch neu bestellt worden war. In diesen Fällen kam es nicht selten zu Streitigkeiten, da die Person, die blieb, die Geschäfte stärker an sich zog. In einigen Fällen musste ein Geschäftsführer eingestellt werden, in anderen traten die Ehefrauen in die Geschäfte ein.

Speziell zu den arisierten Kinos liefern Sie in Ihrer Studie auch Statistiken.

In diesen Fällen war es ja interessant, was ganz oder teilweise arisiert wurde, und hier liefere ich in meinem Buch auch Prozentzahlen. Eine andere Statistik widmet sich den Besucher- und Umsatzzahlen, die ich den Akten für die Jahre 1938 bis 1945 entnehmen konnte. Und eine weitere Statistik, die vor allem ab 1943/44 relevante Zahlen bietet, listet die Bombenschäden der Wiener Kinos auf.

Wie sah die Programmierung der Wiener Kinos während des NS-Regimes aus?

Es war absolut wichtig, dass flächendeckend Programm im Sinne der NS-Ideologie gezeigt wurde, wobei man dazu auch sagen muss, dass Wien damals flächenmäßig wesentlich größer war und auch ländliche Regionen eingemeindet waren, die heute zu Niederösterreich gehören. Man hätte da also Tagesreisen machen müssen, wären nur in wenigen Innenstadtkinos bestimmte Filme gelaufen. Es war also wichtig, das wenige propagandistisch nutzbare Programm möglichst breit anzubieten, und damit waren nicht nur die Wochenschauen gemeint, sondern auch Filme. Haydn Kino – Bauplan. © Archiv

Hatte bis 1938 ein freier Markt bestanden?

Ja, und dieser war sogar noch wesentlich freier, als es heute der Fall ist, da es sich ja fast durchwegs um Einzelkinos handelte. Es gab vor 1938 mit Ausnahme der KIBA keine „Kinokette“; das heißt, jeder hat geschaut, das spannendste Programm für sein Kino zusammenzustellen. Das später ebenfalls „arisierte“ Haydn Kino in der Mariahilfer Straße war zum Beispiel damals ein wichtiges Premierenkino, dessen Filme vom Besitzer ausgewählt wurden. Wobei zu betonen ist, dass es damals auch wesentlich mehr Filmverleiher als heute gab. Im historischen „Filmviertel“ Neubau gab es zum Beispiel Kaffeehäuser, in denen sich die Filmverleiher und die Kinobesitzer getroffen haben, um bei einer Tasse Kaffee auszuhandeln, wer welchen Film bekommt. Auch die amerikanischen Verleiher waren ja bereits lange vor 1938 in Wien, Warner Brothers, FOX oder – übrigens ein jüdischer Verleih – MGM. Und so wie heute auch wollte man immer die neuesten und besten Filme in seinem Programm wissen. Es gab Premierenkinos, Bezirkspremierenkinos, Nachspielkinos in den Bezirken und mehr. Programmkinos, wie wir sie seit den 1980er-Jahren kennen, gab es zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht.

Gab es für Sie spezielle Entdeckungen oder Kinos, mit denen Sie sich ausführlicher beschäftigt haben?

Es gab tatsächlich ein paar Kinos, mit denen ich mich näher beschäftigt habe. Das waren vor allem Kinos mit langen rechtlichen Geschichten und vielem hin und her, darunter etwa das Haydn Kino oder das Elite Kino und insbesondere auch das Kolosseum Kino, das von einem gemeinnützigen Verein geführt, jedoch von der Familie Hellmann gepachtet wurde, die das Kino betrieb. Da es sich hier um eine jüdische Familie handelte, von denen gleich mehrere Mitglieder das Kino mitleiteten, war dies ein größerer und komplexerer Fall. Obwohl die Frau Katholikin war und Herr Hellmann, der als Anwalt in Wien tätig war, sofort nach dem „Anschluss“ die Scheidung durchführte und dann nach Südamerika emigrierte, wollten die neuen Machthaber, dass auch Frau Hellmann aus dem Betrieb ausgeschlossen wurde. Diese Forderung war im Grunde auch nach den damals geltenden Bestimmungen ungültig, doch der Vorwurf des „Tarnungsgeschäfts“ setzte sich durch, und die Familie verlor das Kino an zwei Ariseure, die dann nach 1945 auch noch die Dreistigkeit hatten, vor dem Zivilgericht mit der zurückgekehrten Familie in einen Rechtsstreit zu treten, bei dem sie behaupteten, dass der „Verkauf“ des Kinos nach damaligen Recht korrekt gewesen war. In diesem Fall hat sich sogar der damalige Obmann der Lichtspieltheater, Adolf Hauer, eingesetzt, sodass es letztendlich zu einem Vergleich zwischen den Parteien kam und die Nachfolger der Ariseure das Kino bis zu dessen Schließung mitbetreiben konnten. Die Konzession selbst hatte nach dem Krieg übrigens die KIBA, die bis in die 1990er-Jahre einen beachtlichen Teil an Wiener Kinokonzessionen innehatte, in ihrer besten Zeit werden das rund 40 Kinos gewesen sein. Michaela Englert hat 2007 das Admiral Kino in der Burggasse übernommen. 2013 konnte das 100-Jahr Jubiläum gefeiert werden. © Ulrike Kozeschnik-SchlickDie meisten davon hatten jüdische Betreiber gehabt, die sich nach 1945 noch im Ausland befanden und vielfach nichts davon erfahren hatten, dass sie um die Rückstellung ihrer Betriebe ansuchen konnten. Man hat niemanden informiert, man hat niemanden eingeladen ‒ und dann wurde der Auftrag an die KIBA erteilt, sich die freien Konzessionen der nicht restituierten Kinos zu holen. Die Kinobetreiber selbst mussten dann jahrelang Prozente ihrer Einnahmen an die KIBA abführen, die ansonsten mit den meisten Kinos überhaupt nichts mehr zu tun hatte: die so genannte „Konzessionspacht“.

Bis wann hat sich diese Struktur nach dem Krieg erhalten?

Tatsächlich wurde das erst 1991 durch den damaligen Bürgermeister Helmut Zilk beendet, der das neue Wiener Kinogesetz herausbrachte. Von da an war die KIBA binnen vier Jahren weg.

Gibt es genaue Zahlen, wie viele der „arisierten“ Kinos nach 1945 an die ehemaligen Besitzer beziehungsweise die KIBA gingen?

Man kann sagen, dass ungefähr die Hälfte der Kinos an die KIBA oder auch der Stadt Wien nahe Vereine gegangen ist. Wirklich zurückgekommen sind nur die wenigsten, unter denen der Fall der Familie Hellmann sicher der bekannteste ist.

Wie haben Sie Ihr Buch strukturiert, um dieses komplexe System so genau aufzuarbeiten?

Der erste Teil enthält einen historischen Rückblick, da man die Situation 1938 ja nicht ohne die Jahre davor betrachten kann. Es gab etwa schon während des Ständestaates Verträge, was jüdische Filmkünstler betraf. Hier galt bereits ein Exportverbot, man konnte sich jedoch noch mit Strohmännern behelfen. Und auch in der Filmwirtschaft gab es natürlich eine „fünfte Kolonne“, um den „Umbruch“ im Detail vorzubereiten. Diese Vorgeschichte erzähle ich im Band ebenso wie dann die Grundzüge der Reichspropaganda oder der Reichsfilmkammer, um verständlich zu machen, von welchen Strukturen wir im konkreten Falle sprechen. Danach geht es um den „Anschluss“ und den sog. Saalplan des Admiral Kinos, eines der wenigen Programmkinos. © Archiv„Umbruch“ in der „Ostmark“, und im Kern geht es dann natürlich um die „Arisierungen“. Im letzten Teil gehe ich dann noch im Detail auf die Betriebsführung von Kinos während des NS-Regimes ein – vom Jugendschutz über Arbeitsrecht bis hin zur Materialbeschaffung. All das geht aus den Unterlagen hervor, die ich in dem erhaltenen Schrank vorgefunden habe.

Haben Sie neue Kinos entdeckt, die Sie bis dahin noch nicht kannten?

Als ich Anfang der 1980er-Jahre mit meinen Recherchen begonnen habe, gab es viele der Kinos nicht mehr, das Kinosterben hatte ja bereits eingesetzt. Und es war für mich besonders reizvoll, auch die Lage und die Ausstattung der einstigen Kinos genau zu studieren und für dieses Buch zusammenzufassen, etwa den großen Gegensatz zwischen den glänzenden Premierenkinos und den ärmlichen Landkinos oder die Fassungsräume der einzelnen Kinos, die doch oft sehr überraschen. Und schließlich findet man auch die Spielfolge, das heißt, ob es sich um ein Premierenkino, einen Bezirkserstaufführer oder eben ein Nachspielhaus handelte. Denn die Nationalsozialisten führten eine in fünf Gruppen gegliederte strenge Spielfolge ein, bei der jedes einzelne Kino in einer dieser Gruppen eingereiht war. Auch darum wurde oft gekämpft, sodass etwa manches Kino darum angesucht hat, vorgereiht zu werden. Damit befasste sich dann etwa eine so genannte „Härtekommission“. Das Haydn Kino wurde zum Beispiel vom Premierenhaus zum Bezirkskino heruntergereiht und stattdessen das Apollo Kino zum Premierenkino für den sechsten Bezirk ernannt."Angeschlossen und gleichgeschaltet", Buchcover. © Böhlau Verlag

Das Buch stößt seit seinem Erscheinen auf großes Interesse. Gab es seither neue überraschende Begegnungen?

Was ich nicht erwartet hatte, war, dass mich doch einige Nachfahren ehemaliger Kinobesitzer kontaktiert haben. Eine Dame wollte wissen, ob ein Ariseur eines Kinos ihr Opa war – und sie war unheimlich erleichtert, als sie von mir erfuhr, dass es sich dabei nicht um ihren Großvater handelte. Sie wäre mir fast um den Hals gefallen. Es freut einen, wenn man das Gefühl hat, man hat so viel hineingesteckt und man bekommt doch etwas davon wieder zurück.

Klaus Christian Vögl: „Angeschlossen und gleichgeschaltet. Kino in Österreich 1938‒1945“ Böhlau 2018. 447 S. € 62. Auch als e-Book erhältlich.
Termine:
"Vom Lichtspieltheater zum Multiplex" - Zur Geschichte des Kinos in Wien
Foyer-Ausstellung Wiener Stadt- und Landesarchiv, Guglgasse 14, 1110 Wien. Bis 3. Juli 2020.
Den Eröffnungsvortrag, „Vom Prater-Kinematographen zum Kinopalast. Die Wiener Kinolandschaft von den Anfängen bis zur Nachkriegszeit“ hält Angela Heide am 3. März 2020, 18 Uhr im Wiener Stadt- und Landesarchiv.
Filmvorführung: “Kino Wien Film“, Regie Paul Rosdy. 2. April 2020, Breitenseer Lichtspiele.