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Ali Smith: „Es hätte mir genauso“, Roman

Autorin Ali Smith, bewundernswert und originell. © Luchterhand Verlag

Immer wieder kann mich die schottische Autorin Ali Smith mit ihren Einfällen, ihrer Sprache und ihren Wortspielen bezaubern. Wie viele ihrer Romane ist auch „Es hätte mir genauso“ kein Roman im herkömmlichen Sinn. Darauf weist nicht nur das offene Ende hin. Was rätselhaft ist, muss auch so bleiben. „There but for the“ (Originaltitel) ist 2011 erschienen und nun in der kongenialen Übertragung von Silvia Morawetz als Taschenbuch erschienen.

Cover der ersten Ausgabe des englischen Originals. © Ali Smith Die Geschichte ist im Kern einfach: Miles Garth wird von Mark, mit dem er im Park vor dem Observatorium zufällig ins Gespräch gekommen ist, zu einer Abendgesellschaft mitgenommen. Zwischen Hauptgang und Dessert verschwindet er, schließt sich im Gästezimmer der Gastgeberin ein und bleibt fortan unsichtbar. Bald erlangt der unsichtbare Miles, den das sensationslüsterne Publikum samt den noch gierigeren Medien Milo nennt, weil das interessanter klingt, über den Bezirk Greenwich hinaus Berühmtheit. Ein Fanclub wird gegründet, eine Schar von Voyeuren belagert das Haus, und Gastgeberin Genevieve Lee verkauft allerhand Milo-Reliquien.

Miles und die zum Brüllen komische, also ganz gewöhnliche, Abendgesellschaft sind für Ali Smith nur der Anlass, in Zeitsprüngen von anderen Personen zu erzählen, oder sie erzählen zu lassen, die Miles gekannt haben oder ihm begegnet sind, und über das Phänomen Zeit, die seit jeher bestehende Sensationsgier, das eitle Geschwätz der Leute und über das Erzählen nachzudenken. Nachdenken über  die Zeit. Uhr auf dem Greenwich Observatorium,. Gefilmt von © Ali Kevin Kilpatrick / youtubeOft sagt sie mit ihren geliebten Wortspielen – Ali Smith hat Linguistik studiert und an der Universität gelehrt – mehr aus als jede philosophische Abhandlung. Was soll sich die Leserin denken, wenn der Prolog so beginnt: „Tatsache ist, denk dir einen Mann …“, und das erste Kapitel ein Märchen sein könnte: „Es war einmal ein Mann, der…“. Soweit zu den Tatsachen, denen die zehnjährige Brook, für mich die wichtigste Person in diesem köstlichen, klugen und auch bizarren Roman, immer wieder nachspürt. Brook, Tochter des ebenfalls eingeladenen Ehepaars aus dem Nachbarhaus, ist eine „Cleveristin“ (die Cleverste von allen zu sein, ist zu wenig, man muss schon eine Cleveristin sein, um anerkannt zu werden) und die einzige, die mit dem unsichtbaren Miles im Gästezimmer Kontakt hat. Sie schreibt ihm Zettel und er schreibt zurück, wie die flach gedrückte kalte Platte, die er als Nahrung erhält, werden sie durch den Türspalt am Boden durchgeschoben.

Nicht nur die Zeit, auch der Park des königlichen Observatoriums (Heim der Greenwich Mean Time) spielt eine Rolle im Roman. © i royalparks.org.uk In den vier Kapiteln, geordnet nach den Wörtern des Buchtitels, unterhält mich Smith spielerisch und ironisch, wobei sie niemals gehässig oder sarkastisch ist. Ali Smith hegt auch für jene die sie karikiert, freundliche Zuneigung, vielleicht auch ein wenig Mitleid,fordert zum Nachdenken.

Es: Erzählt von Anna Hardie, die von Genevieve Lee in der ersten Panik über Miles Gästezimmer-Besetzun zu Hilfe gerufen wird, weil sie in Miles liegen gelassenem Mobiltelefon ihre Nummer gefunden hat. Allmählich erinnert sie sich, dass sie Miles in einer Schüler*innengruppe vor 30 Jahren kennengelernt hat. Zeitsprung: Damals war sie 17.

Hätte: Mark, ein schwuler Fotoreporter, der seine verstorbene Mutter, eine berühmte Malerin, die Selbstmord begangen hat, in Reimen sprechen hört, lernt Miles kennen und lädt ihn, einer Eingebung folgend, zu dem „Abendessen mit außergewöhnlichen Gästen“, der Lees ein. Ali Smith, gedankenvoll. ©  Christian Sinibaldi / nytimes.com

Mir: Ist der im Sterben liegenden alten May Young gewidmet und eines der schönsten Kapitel des Romans. May ist bereits ein wenig dement, was sie nicht hindert, über das „intimet“ nachzudenken, sich an ihre glückliche Ehe und die früh verstorbene Tochter zu erinnern, über die Vergänglichkeit zu sinnieren und immer wieder zu lachen, unhörbar in ihrem Inneren. Schließlich schafft sie es sogar, das Sterbezimmer zu verlassen und ihren eigenen Tod zu sterben. Ihre Beziehung zu Miles ist eine schockierende Überraschung.

Genauso: „gut könnte London nicht mehr da sein.“ Denkt Brook, die im kommenden Jahr, am 11.April 2011 (zwanzig elf, sagt Brook),"Es hätte mir genauso", Cover © btb 11 Jahre alt wird, Brook, die Cleveristin, bringt mich ununterbrochen zum Lachen und die Autorin benutzt sie als kindliches Alter Ego, das ein diebisches Vergnügen an Wortspielen hat. Auch an den vor allem im Anglo-Amerikanischen Sprachraum gebräuchlichen Klopf Klopf-Witzen („Klopf, klopf“, „Wer ist da?“… Ende mit einem Wortwitz), hat Brook ihre Freude, doch die fröhliche, positiv denkende Cleveristin schiebt auch überaus kluge Definitionen von Begriffen heraus. Sie hat das letzte Wort, sitzt in der Sonne und liest die Geschichte noch einmal.

Das werde ich wohl auch tun.

Ali Smith: „Es hätte mir genauso“, aus dem Englischen von Silvia Morawetz, btb 2019. Deutsche Erstausgabe 2012, Luchterhand. 317 S. € 10,30.