Raffaella Romagnolo: „Bella Ciao“, Roman
Raffaella Romagnolos großer Roman ist eine Aufforderung, tief einzutauchen in das Leben italienischer Bauern und Arbeiter*innen im Piemont. Ein halbes Jahrhundert umspannt "Bella Ciao", ein Roman, der auf historischen Tatsachen beruht, bestrickend von erfundenen Familien erzählt. Drei Frauen, die das Schicksal („Destino“ ist auch der Titel der italienischen Originalausgabe) hart anpackt, stehen im Mittelpunkt des Breitwandpanoramas.
Weder Giulia noch Anita, beide in Armut aufgewachsen, noch Adelaide, die Tochter des reichen, aber verschwenderischen Marchese, lassen sich unterkriegen. Zwei Kriege, Hunger und all die Toten können ihren Mut und die Hoffnung nicht umbringen, ihre Herzen nicht verhärten.
Die gemeinsame Schulzeit können die innigen Freundinnen Giulia Masca und Anita Leone nicht beendet, sie müssen schon als Kinder in der Seidenspinnerei arbeiten. In Männerkleidern nehmen sie an den Demonstrationen für bessere Arbeitszeit und Bezahlung teil. Doch der Besitzer sitzt am längeren Hebel, irgendwann müssen auch die hartgesottensten Streikführer aufgeben. Noch ist Frieden, Armut und Hunger regieren dennoch. Auch Giulias Mutter war noch keine elf Jahre, als sie täglich zwölf Stunden in der Spinnerei arbeiten musste. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts beschließt Giulia, die Heimat zu verlassen. Eine tiefsitzende Enttäuschung und Hunger treiben sie aus Borgo di Dentro fort. Sie gelangt bis New York, wird von einem Exilitaliener aufgenommen, der ihr ein Zuhause gibt. Libero Manfredi ist ein tüchtiger Mann, der es mit seiner Greisslerei bald zu Filialen und einem gewissen Wohlstand bringt. Er heiratet Giulia, die Ehe ist beständig, Michael wird geboren. Später kommen auch Enkelkinder zur Welt. Nach 46 Jahren zieht es Giulia wieder in die alte Heimat. Der 2. Weltkrieg ist zu Ende, die Faschisten sind entmachtet und die Toten können endlich begraben werde. Betrauert werden zwei Generationen von Söhnen, Brüdern und Ehemännern, die zwei sinnlosen Kriegen zum Opfer gefallen sind.
Während sie durch die Straßen des Dorfes spaziert, erinnert sich Giulia an ihre Kinder- und Jugendjahre in Borgo di Dentro, einem Ort im Piemont, für den sich Romagnolo vom realen Ort Ovada am Zusammenfluss der Wildbäche Orba und Stura inspirieren ließ. Der Besuch der 65jährigen Mrs. Giulia Masca (sie hat den Ehenamen Manfredi nie benützt, war und ist Giulia Masca aus Borgo di Dentro) gibt der Autorin Anlass, die wechselvolle Geschichte Italiens historisch treu zu erzählen, auch wenn die lebensvollen, eindrucksvoll charakterisierten Personen erfunden sind. Das Geschehen, Streik in der Seidenspinnerei, die schon früh beginnenden Gewaltausbrüche der Schwarzhemden, die Kriege und selbst die verheerende Überschwemmung, als der Damm der Orba gebrochen ist und Felder, Weinberge und Häuser in Borgo di Dentro unter Wasser standen, ist in den Annalen verzeichnet.
Romagnolo versteht es, einen großen Familienroman zu schreiben, der von der ersten Seite an packt und hineinzieht. Das Motto der Geschichte eines halben Jahrhunderts lautet: Die Familie ist ein warmes Nest, auch wenn kein Feuer im Ofen brennt, das seltene Glück und das häufige Leid werden geschwisterlich geteilt.
Neben dem Lebe von Giulia und Anita samt all ihren Vorfahren und angeheirateten Verwandten, wird auch von der Marchesina Adelaide erzählt, die in Nico, den Sohn von Anita verliebt ist, und vom Verwalter der Güter der Franzonis, Alfonso Risso, der die Halbpächter demütigt und bestiehlt, ebenso wie seinen Herrn, den Marchese. Der ist ein glühender Faschist, weil er die Schwarzhemden als Sieger sieht, und er wird immer auf der Seite der Herrschenden sein, will einmal selbst Herrscher werden. Von seinem Absturz erfährt man erst ganz am Ende des Romans. Romagnolo lässt ihre Leserinnen nicht in Schaudern und Schrecken zurück, sie führt die Geschichte zu einem positiven Ende. Italien hat den Krieg überstanden, der Wiederaufbau beginnt, alte Kränkungen werden verziehen, die Toten endlich losgelassen. Der Blick ist in die Zukunft gerichtet.
Risso ist der einzige abscheuliche Mensch, dem in der personenreichen und intensiven Geschichte Aufmerksamkeit geschenkt wird. Den Gewalttätern, Ausbeutern und Menschenverächtern wird kein Denkmal gesetzt, sie bleiben gesichtslose Schemen. Raffaella Romagnolo gelingt es, Geschichte lebendig zu machen und in der Leserin Gefühle zu wecken, schließlich spielt nicht nur Elend und Not eine Rolle, sondern auch die Liebe. Um die zahlreichen miteinander verflochtenen Personen auseinanderzuhalten, hat die Autorin jedem der drei chronologisch gereihten Bücher ein erklärendes Personenverzeichnis vorangestellt.
Der deutsche Titel erinnert an die Hymne der Partisanen. Schon am Anfang des 20. Jahrhundert wurde die Melodie von "Bella ciao" von den Reispflückerinnen gesungen, die ihr hartes Los beklagt haben. Im 2. Weltkrieg wurde „Bella ciao“ zur Hymne der italienischen Resistenza.
Und falls ich als Partisan sterbe
(Und falls ich in den Bergen sterbe)
O Schöne, ciao, Schöne, ciao, Schöne, ciao, ciao, ciao!
Und falls ich als Partisan sterbe
(Und falls ich in den Bergen sterbe)
Dann musst du mich begraben
In der Arbeiterbewegung gehört „Bella ciao“ noch heute zu den bekanntesten Kampfliedern. So bezieht sich der deutsche Buchtitel lediglich auf einen Teil des Romans, „Destino“, der italienische Titel umschließt hingegen den gesamten großartigen Roman.
Raffaella Romagnolo: „Bella Ciao“, "Destino", aus dem Italienischen von Maja Pflug, Diogenes 2019. 517 S. € 24,70.