Philippe Besson: „Hör auf zu lügen“, Roman
Eine Erinnerung an die erste große Liebe. Philippe Besson, in seiner Heimat Frankreich als Autor überaus beliebt, erzählt in seinem autobiografischen Roman, erschienen 2017, von seiner ersten großen Liebe zu dem Bauernsohn Thomas Andrieu, einem Mitschüler im Gymnasium seiner Geburtsstadt Barbezieux, dem das Buch auch gewidmet ist. „Hör auf zu lügen" ist ein brillant erzähltes, intimes Bekenntnis.
Der Titel stammt von Philippes Mutter. „Hör auf mit deinen Lügen“ sagte sie, wenn der kleine Bub fantastische Geschichten erzählt hat. Natürlich hat Philippe nie zu „lügen“ aufgehört, er ist Romanautor geworden. Diesmal aber lügt er nicht, er erzählt eine wahre Geschichte, voll Inbrunst und Melancholie. Philippe ist gerade 17, weiß längst, dass ihn Mädchen nicht interessieren und er sich mehr zu Knaben hingezogen fühlt. Besonders gefällt ihm der ein wenig ältere Thomas, doch er wagt es nicht, ihn anzusprechen. Das tut Thomas für ihn und er ist es auch, der fortan die Regeln dieser Leidenschaft, die nur wenige Monate dauernd wird, bestimmt: „Mit niemandem reden, nicht gemeinsam gesehen werden.“ In den 1980er Jahren war Homosexualität nicht nur in Frankreich ein absolutes Tabu, und Barbezieux ist ein kleines Dorf in der Charente, da kennt man einander. Thomas geht in eine andere Klasse, doch beide stehen vor dem Baccalauréat, der Matura. Doch die Grenzen zwischen Thomas und Philippe scheinen auch in der sozialen Stellung zu liegen, Philippe ist der Sohn eines Lehrers, das hat nicht nur Vorteile; Thomas Vater ist Winzer, er soll einmal das Weingut erben, schon jetzt kümmert er sich liebevoll um die geistig behinderte Schwester. Dennoch;, das erste Rendezvous der beiden heranwachsenden Männer entfacht eine Stichflamme, die weiterhin lichterloh lodert. Sie erforschen ihre Körper, lieben einander begierig und lustvoll. Gesprochen wird kaum.
Besson schafft es, die gesamte Bandbreite der Sinnenlust, die geheim bleiben muss, zu beschreiben, ohne die Leser*innen zu Voyeur*innen zu machen, ohne Prüderie, aber auch ohne Vulgarität. Fesselnd und berührend.
Nach bestandener Prüfung geht Thomas für ein Praktikum zu Verwandten nach Spanien, Philippe fängt in Bordeaux ein Studium an. Die sehnsuchtsvollen Briefe, die er an Thomas schreibt, schickt er nicht ab. Doch die Liebe stirbt nicht.
23 Jahre später sieht Philippe in einem Hotel den jungen Thomas wieder, mit einem Rollkoffer verlässt er gerade die Lobby. Die gleichen Bewegungen, der gleiche energische Schritt. Abrupt beendet Philippe das Interview, das gerade mit ihm geführt wird, rennt dem jungen Mann nach und stoppt ihn schließlich. Und der Sohn von Thomas, denn er ist es, der Philippe aufgeschreckt hat, bleibt stehen und weiß sofort, wen er vor sich hat. „Sie müssen ihn sehr gemocht haben, wenn Sie mich so anschauen“, sagt das Abbild des Vaters (nur das Lächeln unterscheidet Lucas von Thomas. Thomas hat selten gelächelt.) und lässt sich auf ein Gespräch mit dem ehemaligen Liebhaber des Vaters ein.
Dass diese Begegnung in der Familie von Thomas eine Katastrophe auslösen wird, erfährt Philippe nach neun Jahren. Da ist es zu spät, um mit dem Lügen aufzuhören.
Ein grandioser Roman, der klar macht, dass auch in früheren Werken Bessons Thomas immer vorhanden ist. Die erste sexuelle Erfahrung, die erste brennende Liebe ist nicht gestorben. Thomas selbst ist, so steht es in der Widmung, 2016 verstorben. In den Gedanken und im Herzen des Autors ist er immer noch lebendig und Philippe möchte dieses Erlebnis mit den Leser*innen teilen. Sensibel, intensiv und authentisch berichtet er über die Verbindung. Unaufdringlich eingebettet in die Ereignisse der 1980er Jahre und die damalige Hitparade der Pop-Musik erzählt dieser Roman viel über Liebe und Verlust, über Leidenschaft und Trennung und das Erinnern.
Philippe Besson: „Hör auf zu lügen“, „Arrête avec tes mensonges“, aus dem Französischen von Hans Pleschinksi, C. Bertelsmann, 2018. 160 S. € 20,60. E-Book € 15,99.