Anne Goldmann: „Das größere Verbrechen“
Frauen stehen im Mittelpunkt von Anne Goldmanns Kriminalromanen. Auch mit ihrem neuen Roman bleibt sie sich selbst und ihren Leserinnen treu. Drei Frauen und ein Mord. Oder sind es gar zwei Morde und vier Frauen? Für Spannung ist jedenfalls in „Das größere Verbrechen“ ebenso gesorgt wie für Nachdenklichkeit. Ein spannender Roman, vielleicht Kriminalliteratur, doch sicher kein simpler, gewöhnlicher Krimi.
Anne Goldmann braucht keinen Kommissar und die Toten sind meist nicht sichtbar, der Mord geschieht ohne Zuschauer, stattdessen dürfen die Leserinnen Frauen beobachten, duldende Heldinnen, die ihren Alltag zu bewältigen suchen und ihr Geheimnis vergessen wollen. Als Mitglied des Literatur-Netzwerkes „Herland“ ist ihr Anliegen, Kriminalliteratur zu schreiben, „in der Frauenleben eine zentrale, realistische Rolle spielen“ Ihr jüngster Roman, „Das größere Verbrechen“ ist ein wunderbares Beispiel dafür. Drei unterschiedliche Frauen, jede von ihnen trägt einen schweren Rucksack, doch darüber wird nicht gesprochen. Es muss weitergelebt werden. Die Verletzungen beherrschen die Träume, gesprochen wird darüber nicht.
Pünktlich kommt die Autorin ins Café, lächelt ganz echt, strahlt mit den goldgrünen Augen. Ich muss sie mit meiner Frage überfallen, weil mich das Gewissen plagt. Im neuen Roman, spannend, aber doch kein Krimi, sind die Frauen alle irgendwie traumatisiert, müssen Erlebtes und ihnen Angetanes verarbeiten und kämpfen sich tapfer durch den Wust des Lebens. „Ich fühle keine Last über oder in mir, ist da etwas falsch bei mir?“ Goldmann lacht und schüttelt den Kopf. „Nein, es sind ja besondere Frauen, die ich zu meinen Protagonistinnen gewählt habe, zwar sind sie auf der einen Seite wie Du und ich, auf der anderen, haben sie eben Furchtbares erlebt, Vergewaltigung und Folter, Fremdbestimmung und Missachtung. Seien Sie froh, dass es Ihnen besser geht.“ Dennoch fühle ich mich diesen Frauen verbunden, denn das Gefühl, dass mein Körper nicht mir gehört, von anderen bestimmt und geformt wird, ist mir nicht fremd. So scheinen mir die Frauen zugleich fremd und vertraut: Ana, die Putzfrau, Frau Sudić, die aus Bosnien fliehen musste, und Theres in ihrem Eheparadies „Verletzungen, tiefsitzende Wunden und vergrabene Erinnerungen, teilen viele Frauen mit meinen Protagonistinnen“, sagt Goldmann. Sie kennt viele davon, begegnet ihnen real in einem Beruf, schreibt fiktiv darüber in dem anderen.
Immer sind es Frauen, die in Goldmanns Romanen dominieren. Alls Kriminalromne ausgewiesen, unerscheiden sich ihre Bücher jedoch von der Flut der Serientäter und depressiven Ermittler, die in die Buchhandlungen schwappt. Sie wirken als Inseln, auf denen man Realität und Einfühlsamkeit findet. Solche Kriminalromane liest man nicht zum Zeitvertreib, sondern mit Gewinn und Spannung, auch wenn die Themen unte die Haut gehen. Ist Anne Goldmann mit der bezeichnung "Krimi" zufrieden. Nicht ganz: „Kriminalromane, würde ich meinen. Das passt.“ Immerhin gibt es Leichen, aber eben keine Kommissare und keine Serientäter. Im aktuellen Roman muss die Leserin haftelmacherisch aufpassen, um am Ende zu wissen, wer gemordet hat. Doch im Kern geht es nicht um Täter(in) und Opfer, denn Opfer sind die Frauen bei Anne Goldmann alle. Doch merkt man es ihnen nicht gleich an.
Der zweite Beruf von Anne Goldmann macht da sicher seinen Einfluss geltend. Oder ist es der erste? „Beide Berufe, der als Schriftstellerin und meine Arbeit mit straffällig gewordenen Männern und Frauen, sind gleichwertig. Ich verwende niemals eine mir aus der Arbeit im Gefängnis vertraute Person in meinen Romanen, aber dass Situationen oder Biografien mich inspirieren will ich nicht leugnen.“ Als Autorin hat sie erfahren, dass die von ihr geschaffenen Opfer und Täter („Oft sind die Täter auch Opfer und die Opfer zugleich Täter“) ihren eigenen Willen durchsetzen wollen. „Meine beiden Berufe ähneln einander. Auch die Klienten und Klientinnen sind eigensinnige Wesen, das sind meine Geschöpfe auch oft. Die Arbeit mit ihnen ist ähnlich wie das Schreiben.“
Die Empathie, das aufmerksame Zuhören, den Willen, das Gegenüber, sei es lebendig als Hilfsbedürftige(r) oder ausgedacht als Romanfigur, zu respektieren, hat Goldmann bereits inmitten ihrer sechs Geschwister gelernt. Diese Bereitschaft, andere wirklich kennenzulernen und auch zu verstehen, zeichnen auch ihre Romane aus. Immer wieder habe ich den Eindruck, na diese Frau, die kenne ich doch, wie heißt sie nur wirklich? Das freut die Autorin.
Schon als Teenager hat Anne Goldmann, geboren 1961, geschrieben, auch Preise gewonnen, „doch dann hat mich der Mut verlassen.Iich habe zu wenig Selbstbewusstsein gehabt“, und alles was sie schon geschrieben (und auch veröffentlicht) hat, weggeworfen. „Nach vielen Jahren hat es gezündet und mich wieder gepackt und ich habe gleich Glück mit dem Argument Verlag gehabt, mit einem ausführlichen Brief hat die Lektorin meinen ersten Roman gewürdigt und angenommen.“ Mit dem jüngsten liegen bereits vier spannende Romane vor. Kriminalromane, die sich als feinfühlig ausgeleuchtete Lebensbilder lesen lassen und viel Stoff zum Grübeln bieten.
Dass Anne Goldmann, deren handelnde Personen immer Frauen sind, ihre Figuren und die Handlung bewusst mit einem weiblichen Blick entwickelt, ist logisch: „Ich bin eine Frau, ich denke und fühle wie eine Frau.“ Vermutlich wirken ihre Charaktere, weibliche wie männliche, deshalb so authentisch. „Mit dem Verlag habe ich wirklich Glück. Ich muss nicht nach dem Markt schreiben, mich nicht darum kümmern, was gerade im Trend liegt. Ich darf meine Themen in meiner Sprache behandeln.“ Obwohl für Goldmann in beiden Berufen das Vertrauen eine wichtige Rolle spielt, ist sie in einem Punkt besonders vorsichtig: „ich misstraue der Idylle“. Dieses Misstrauen gibt ihren Figuren und der Handlung Lebendigkeit und Realitätsnähe.
Den Leserinnen aber vertraut sie, sie lässt sie mitdenken und die Lücken, die manchmal entstehen, selber füllen. „Ich muss ja nicht jede Kleinigkeit vom Aufstehen bis zum Niederlegen protokollieren. Wenn jemand duscht, dann ist es doch logisch, dass sie sich danach abtrocknet, das muss ich doch nicht eigens sagen.“
Einen Holzhammer verwendet Anne Goldmann beim Schreiben nicht, es darf auch geträumt und fantasiert werden, so dass sich die Leserin mitunter durch das Gestrüpp im Innenleben, durch Träume und Fantastereien der Personen kämpfen muss. Und nicht jede Auflösung wird auf dem Silbertablett präsentiert: „Ich überlasse es den Leserinnen, sich ein Bild zu machen. Ich muss nicht alles vorkauen.“
Im Frauennetzwerk „Herland“ trifft sie sich mit deutschsprachigen Kriminalautorinnen, die eines ähnlichen Sinnes sind, nämlich Kriminalliteratur schreiben, „in der Frauenleben eine zentrale, realistische Rolle spielen.“ Gemeinsam werden Lesungen veranstaltet miteinander über das Schreiben geplaudert und junge Autorinnen, denen die Stellung der Frau im Leben wie im Roman ein Anliegen ist, beim Schreiben ihres zweiten Romans unterstützt. „Wenn ich schreibe, möchte ich beides: In eine neue, fremde Welt eintauchen und von einer Welt erzählen, die bekannt ist, von Menschen von nebenan.“ Botschaft gibt es keine: „Ich möchte Türen aufstoßen und etwas bewegen, doch das ist nicht zielgerichtet.“ Wie das Motto der Frauen von Herland. „Hinsehen – Erzählen – Riskieren.“
PS: Der Name dieses weiblichen literarischen Netzwerks ist mit Bedacht gewählt und wird verständlich, wenn man erfährt, dass es Herland wirklich gibt, also zwischen Buchdeckeln gibt. „Herland“ ist ein feministischer Roman der amerikanischen Autorin Charlotte Perkins Gilman, in dem sie drei aufgeblasene Kerle ein Land entdecken lässt, in dem nur Frauen leben. Die Männer sind überflüssig, denn in "ihrem Land" pflanzen sich die Frauen durch Parthenogenese fort. Das Ergebnis ist eine ideale soziale Ordnung: frei von Krieg, Konflikten und Dominanz. Eine weibliche Utopie, erschienen 1915, 1980 ins Deutsche übersetzt: „Ihrland“, als Taschenbuch und eBook im Amazon Kindleshop.
Anne Goldmann: "Das größere Verbrechen", Argument Verlag mit Ariadne, 2018. 240 S. € 13,40.