Michael Cunnningham: „Ein wilder Schwan“
Alte Märchen, die überraschenderweise im Hier und Jetzt spielen, erzählt der Romanautor Michael Cunningham in seinem amüsanten und auch verschreckenden Märchenbuch für Erwachsene „Ein wilder Schwan“. Mit Humor und Einfühlungsvermögen lotet er die von den ursprünglichen Erzählern nur oberflächlich gezeichneten Charaktere aus. Die, wie Cunningham, in New York lebende japanische Illustratorin Yuko Shimizu ergänzt den Text mit vom Jugendstil inspirierten Zeichnungen.
Charles Perrault, die Brüder Grimm und Hans Christian Andersen sind Pate gestanden für Geschichten, die die Leserinnen persönlich ansprechen, vielleicht auch betreffen und betroffen machen. Cunningham geht den Märchen von den „Sieben Schwänen“, von „Rumpelstilzchen“ oder „Hänsel und Gretel“ auf den Grund, sucht nach den Motiven für das Handeln der Märchengestalten und findet sogar die Vorteile, die so manche der uns bekannten Figuren aus Not und Leiden ziehen.
Auch in seinen Romanen stellt der Autor die „Anderen“, die Unvollkommenen und Sonderbaren, die Ausgestoßenen und Einsamen in den Mittelpunkt, betrachtet sie mit oft bissigem Humor und empathischer Freundlichkeit. In vielen Geschichten spricht er die Leserin mit „Du“ an, und das geht unter die Haut. Andere Märchenvariationen bestehen nur aus alltäglichen Dialogen, weniger märchenhaft als alltäglich. Neue Perspektiven der Märchendeutung öffnen sich. Ohne therapeutische Absicht wendet sich Cunningham mit seiner Tiefenforschung direkt an die Leserinnen, zwingt uns, nachzuforschen, welche Motivationen wir selbst tatsächlich für unser Tun und Lassen haben. Dichter und Denker sind schon immer von den alten Märchen, hinter denen mehr steckt als eine Enschlafgeschichte für die Kleinen, fasziniert. Neue und auch tiefenpsychologische, pädagogische oder philosophische Interpretationen gibt spätestens seit Siegmund Freud. Doch Cunningham tut dies auf besonders charmante und auch durchaus unterhaltsame Weise.
Yuko Shimizu gibt den Märchen, die trotz der poetischen Sprache, übertragen von Eva Bonné, gar nicht so märchenhaft, sondern recht real wirken, eine neue Dimension und Bedeutung. Ihr Strich erinnert an die oft vom japanischen Holzschnitt beeinflussten Bilder, die Aubrey Beardsley gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Buchillustrator gezeichnet hat.
Die schönste Geschichte ist die Titelgeschichte, die davon handelt, dass die Schwester den in Schwäne verwandelten sieben Brüdern, Zaubermäntel webt, die ihnen wieder ihre menschliche Gestalt zurückgeben. Allerdings wird sie von der Stiefmutter entdeckt, und der Mantel für den Jüngsten wird nicht fertig. Ein Ärmel fehlt, ein Schwanenflügel bleibt als Behinderung.
"Der Flügel störte in der U-Bahn, Taxifahrten kamen gar nicht in Frage. Ständig musste er nach Läusen abgesucht werden. […] Er liebte seinen Flügel verzweifelt. Er fand ihn ärgerlich, hinreißend, lästig, anstrengend, rührend. Er schämte sich; nicht bloß, weil er den Flügel nicht sauber halten konnte, sondern weil er es nicht schaffte, ihn als Stärke zu betrachten."
Der grausigsten Geschichte liegt kein Märchen zugrunde, sondern die Horrorstory „The Monkey’s Paw“ des englischen Autors W. W. Jacobs (1863–1943). Jacobs’ Gruselgeschichte „Die Affenpfote“ ist im deutschen Sprachraum kaum bekannt, gleichwohl gibt es eine aktuelle Übersetzung der 1902 erschienen Erzählung von Heiko Postma im jmb Verlag, Hannover. Sie handelt von der teuflischen Versuchung, in die der Teufel oder die böse Fee arme Paare mit dem Versprechen, ihnen drei Wünsche zu erfüllen, lockt. Wie auch im Grimmschen Märchen "Die drei Wünsche" ist das Ergebnis ein Desaster, in diesem Fall ein besonders Grauen erregendes. Cunningham muss Recht gegeben werden, wenn er im Prolog sagt: „Die meisten von uns führen ihr Verderben recht zuverlässig selbst herbei.“
Andererseits rät er jedoch allen Neidhammeln, Wutteufeln, Frustzerfressenen und Rachsüchtigen, sie könnten doch
„auf Beschwörungen und uralte Lieder zurückgreifen, auf geheime Sprüche, die man während bestimmter Mondphasen aufsagen muss, um Mitternacht, am Ufer bodenloser, tief im Wald verborgener Seen oder in geheimen Kellerverliesen oder auf einer beliebigen Kreuzung, an der drei Straßen aufeinander treffen. Diese Verwünschungen sind verblüffend leicht zu lernen.“
Aus eigener Erfahrung weiß ich: Sie wirken.
Man darf nur nicht vergessen, dabei zwei Finger der linken Hand zu kreuzen. Linkshänderinnen nehmen natürlich die rechte.
Michael Cunningham: „Ein wilder Schwan“ / „A Wild Swan and Other Tales“, aus dem Amerikanischen von Eva Bonné. Illustrationen von Yuko Shimizu, Luchterhand 2017. € 19,60.