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Håkan Nesser: „Der Fall Kallmann“ Roman

Autor Håkan Nesser © Cato Lein / btb

Eugen Kallmann, trotz seiner Exzentrik beliebter Lehrer am Gymnasium in K. (diesmal irgendein bedeutungsloser Ort in Norrland, und nicht Kumla in Südschweden, wo der Autor Håkan Nesser geboren ist und viele seiner Romane spielen lässt), hat eine besondere Gabe: Er sieht in die Seelen der Menschen und erkennt, ob sie gemordet haben. Deshalb schaut er niemanden in die Augen, weiß aber um einen unentdeckten Mord. Dieses Wissen nimmt er allerdings ins Grab mit, als er in der Nacht unglücklich über eine steile Treppe stürzt und sich das Genick bricht. Oder wurde er gestoßen? Wer ist dann sein Mörder? Das sind nicht die einzigen Rätsel, die es in Nessers jüngstem Roman zu lösen gilt.

Nordschweden im Herbst, wenn die Schule wieder beginnt. © gemeinfreiDie Schule als Biotop der 1990er Jahre. Skinheads und Neonazis treiben dort ihr Unwesen, einer der Anführer hängt eines Morgens an einem Baum, sieht nicht nach Selbstmord aus. Die Polizei ist lahm und hilflos. Da müssen die Schüler*innen und Lehrer*innen selbst Detektivarbeit leisten. Das gelingt allerdings nur teilweise. Jeder hat ein Teilchen des verwirrenden Geflechts in der Hand und gibt auch davon immer nur Bruchstücke preis. Sie alle erzählen ihre eigene Sichtweise, spekulieren und rätseln über Kallmanns Leben und Sterben und berichten zugleich über ihr persönliches Leben, ihre Zweifel und Hoffnungen. Die unterschiedlichen Perspektiven tragen zum Vergnügen der Leserin bei, fordern auch ihre ungestörte Aufmerksamkeit. Pause im schwedischen Gymanisum. © www.paschnet.de Eine öffentliche Diskussion über Eugen Kallmann mit den Röntgenaugen findet nicht statt. Auch mit denen, die mit ihm näher zu tun hatten, und "ihn dennoch kaum kennen", wie alle zugeben, findet sie nicht statt. Ein heißer Brei, der sorgfältig umschlichen wird. "Eugen Kallmanns Augen" heißt der fast 600 Seiten starke Roman im Original.

Håkan Nesser zu Hause. ©  Jo Voets / albertbonniersforla.gseGemildert wird dieses Annus horribilis in K. durch eine Liebesgeschichte. Leon hat seine Frau und die 15jährige Tochter bei einem Schiffsunglück verloren. Die Trauer will kein Ende nehmen, bis der Schwedischlehrer aus Stockholm nach K. zieht. Die Lehrerin Ludmilla, eine Jugendliebe von Leon, hat ihm den Tipp gegeben. Diese alte Liebe aus der Studienzeit flammt wieder auf, Leon und Ludmilla werden ein Paar. Nicht nur die Schule dient als Metapher für die Welt, sondern auch die Familie. Heil? Das passt nur ins Märchen. Buchcover © btb Verlag

Nesser verwirrt die Fäden durch die unterschiedlichen Mutmaßungen und Behauptungen. Schüler*innen und Lehrer*innen, nicht alle sympathisch, nicht alle ehrlich, manche ein wenig altklug, schreiben Tagebücher. Erst nach 20 Jahren werden alle Geheimnisse gelüftet, alle familiären Verwicklungen entwirrt. Scheinbar! Denn irgendetwas bleibt immer ungesagt.

Typisch Nesser, überall Glatteis, falsche Türen, spiegelnde Wände. Schade, dass alle Personen, junge wie alte, die gleiche Sprache sprechen, sonst wäre das Vergnügen an der vertrackten Geschichte ungetrübt.

Håkan Nesser: „Der Fall Kallmann“. Schwedischer Originaltitel "Eugen Kallmanns ögon", übersetzt von Paul Berf, btb, 576 S., € 20,60.