Benedict Wells: "Die Geschichten fliegen mir zu"
Bereits bevor der neue Roman von Benedict Wells erschienen ist, war er auf der Shortlist des European Union Prize for Literature 2016 gereiht. Zurecht „Vom Ende der Einsamkeit“ ist eindrucksvolle europäische Literatur, tiefgehend und unterhaltsam zugleich. Der junge Autor im Porträt.
So jung er noch ist, gerade mal 32, aus der literarischen Kinderstube hat er sich hinauskatapultiert. Benedict Wells ist kein Jungautor mehr. Hochachtung statt enttäuschter Erwartung, Respekt statt mitleidigem Augenzwinkern und Verweis auf das Alter des Autors. Benedict Wells hat es geschafft.
Sieben Jahre hat er an seinem Opus 4 gearbeitet und ich werde mich hüten, es ein „Meisterwerk“ zu nennen, denn wenn man 32 ist und den Kopf voller Geschichten hat – „Die fliegen mir so zu“, sagt er –, dann wird noch mehr Meisterliches zu lesen sein. Doch dort, wo der Boden einmal golden war, musste man, um als Meister aufgenommen zu werden, sein Meisterstück herstellen. Und das ist Wells jüngster Roman allemal: Ein Meisterstück.
Von ihm selbst „steckt viel in ‚Vom Ende der Einsamkeit’, auch wenn Jules am Ende dann doch zehn Jahre älter ist als ich jetzt.“ Jules, der Ich-Erzähler, war, wie der Autor selbst, 12 Jahre im Internat und so hat Wells „in manchen Momenten das Gefühl, mit dem Erzähler zusammen eins zu ergeben. In vielem ist er, was ich nicht bin, und umgekehrt. Oder anders gesagt: Ich hätte so werden können wie er, wenn einige Dinge anders gelaufen wären, und er hätte so werden können wie ich, wenn etwa seine Eltern noch lebten oder er so früh eine Bestätigung erfahren hätte wie ich mit meinen Veröffentlichungen.“
Jules und seine älteren Geschwister, Liz und Marty, kommen ins Internat weil die Eltern bei einem Autounfall gestorben sind. Sie waren also plötzlich allein auf der Welt und dieses Verlassensein, der fehlende Rückhalt verändert alle drei. Die behütete Kindheit in der liebevollen Familie ist mit einem Schlag auseinander gefallen, der Zusammenhalt der Geschwister löst sich auf, auf ganz unterschiedliche Weise kommen sie mit dem neuen Leben zurecht. Jules, vor der Katastrophe ein mutiger, selbstbewusster Bub, zieht sich in sich selbst zurück, wird wortkarg und einsam. Dennoch erinnert er sich mit freundlichen Gefühlen an die Internatszeit. Auch Wells erinnert sich ohne Widerwillen an die Schulzeit im Heim.
„Der Aufenthalt war keineswegs traumatisierend. Im Gegenteil, ich habe die Zeit dort meistens geliebt. Natürlich gibt es im Laufe von dreizehn Jahren in Heimen und Internaten auch mal schwierigere Phasen, gerade am Anfang mit sechs Jahren, aber vielmehr überwiegen die schönen Momente: die Freundschaften, die entstanden sind, die gemeinsamen Erlebnisse und die nächtelangen Gespräche. Jahrelang so weit weg von zu Hause zu sein hat mich sicher auch freier und unabhängiger gemacht.“ Er weiß, dass „es in der damaligen Situation das Beste war. Meine Eltern waren getrennt, ein Elternteil war krank geworden, der andere konnte sich schlecht kümmern, weil er selbstständig war und die ganze Zeit arbeiten musste, da es finanzielle Probleme gab, und so kam ich schlussendlich in ein staatliches Grundschulheim. Ich empfand das jedoch nie als besonders dramatisch, zum einen weil ich ja wusste, wieso ich dort war, und zum anderen, weil ich anders als die schon Jahre älteren Geschwister im Buch nichts vermisst habe, nichts zurücklassen musste. Ich kannte ja nichts anderes als das Internat.“
Jules flüchtet sich in eine Traumwelt in der auch die Schulkollegin Alva vorkommt. Wie wichtig das ebenso verschlossene Mädchen für ihn ist, begreift Jules erst, als er ihr als Erwachsener wieder begegnet. Da ist sie mit einem wesentlichen älteren berühmten Autor verheiratet und lebt in der Schweiz. Aus dem Besuch bei dem ungleichen Ehepaar wird ein Daueraufenthalt und aus Alva und Jules ein Liebespaar. Was an der Freundschaft mit dem alten Autor nichts ändert. Fast hat Jules wieder eine Familie, gemeinsam können die drei die Einsamkeit überwinden. Jules schenkt dem sterbenden Autor Romanow zwei Geschichten, er bekommt die Frau. Als Romanow gestorben ist tatsächlich. Jules und Alva heiraten, komplettieren die Familie mit zwei Kindern. Auch die Geschwister rücken wieder näher zusammen. „Weißt du noch …“ wird jetzt oft gesagt. Marty ist verheiratet, Liz noch immer auf der Suche, irgendwann wird auch sie Fuß fassen. Da schlägt das Schicksal wieder zu und Jules muss noch einmal lernen, mit Schmerz und Verlust fertig zu werden. Los zu lassen, was nicht mehr greifbar ist, anzunehmen, was da ist.
Im Spiel um die besten ersten Sätze eines Romans, darf Wells auf dem Stockerl stehen: „Ich kenne den Tod schon lange, doch jetzt kennt der Tod auch mich.“ So furchterregend wie beruhigend ist dieser erste Satz. In einem Prolog erfährt die Leserin, dass der Erzähler nach einem Motorrad-Unfall zwei Tage im Koma gelegen ist. Jetzt ist er wach und die Vergangenheit liegt als Weg vor ihm. Er geht ihn zurück bis zu den Anfängen, als die Eltern plötzlich nicht mehr da waren. „Was sorgt dafür, dass ein Leben wird, wie es wird?“
Am Ende, im von der Oma geerbten Haus in Frankreich, wo Jules mit seinen Kindern, Bruder und Schwester und der Schwägerin wohnt, weiß er es: Das Leben ist wie es ist und er ist „bereit“ es zu akzeptieren. „Das Gegengift zu Einsamkeit ist nicht das wahllose Zusammensein mit irgendwelchen Leuten.“, heißt es im Buch, „Das Gegengift zu Einsamkeit ist Geborgenheit.“ Schade, dass Benedict Wells während des Kontaktes in Barcelona ist. Ich würde ihn gern umarmen.
Während ich ihn per E-Mail – das erklärt die langen, perfekt formulierten Sätze – löchere, sind noch keine Rezensionen erschienen. Keine Frage, dass sie hymnisch sein werden. Das war nicht immer so. Zwar waren Kritiker_innen vom ersten Roman, „Becks letzter Sommer“, begeistert, doch diese inzwischen verfilmte Geschichte eines Musiklehrers, der seinen Lebenstraum, Musiker zu werden, aufgegeben hat und eine sich bietende Gelegenheit ergreift, um aus de malten Trott auszubrechen, ist gar nicht Wells erster Roman. Der heißt „Spinner“, handelt von einem Jugendlichen und wurde als Nachzügler keineswegs so enthusiastisch empfangen wie „Beck“. „Zuviel Jugendslang“. Kein Wunder, „Spinner“ hat Wells mit 19 geschrieben. Damals hat er sich auch als „rausgelassene Bestie“ bezeichnet. Das würde er jetzt nicht mehr tun, aber er hat „einfach nach wie vor sehr viel Spaß am Schreiben.“ Absichtslos animiert dazu hat ihn John Irving, dessen Romane ihm Vorbild und Vergnügen sind.
Auch wenn die Bilder ein Bubengesicht mit warmen dunklen Augen und einem oft lachenden Mund zeigen, geht Benedict Wells sehr ernsthaft und vorsichtig mit sich um. „Ich versuche tatsächlich viele Entscheidungen so zu treffen, als würde ich mit achtzig auf mein Leben zurückblicken und mich fragen: Ist es das, was du wirklich wolltest? Das meiste, was in der Gegenwart vielleicht wichtig erscheint, ist mit dieser Perspektive unbedeutend. Das alles klappt natürlich nicht immer, aber ich versuche es.“ Die Freude am Schreiben ist für ihn „letztendlich der Kern und das hat sich nicht verändert. Aber ich weiß nicht, ob ich in zehn Jahren noch schreibe oder veröffentliche. Ich möchte die gleiche Freude haben wie jetzt. Wenn das weg ist höre ich sofort auf.“ Das wollen wir doch nicht hoffen.
Über den Autor: Benedict Wells, 1984 in München geboren. Nach den Internatsjahren zog er nach Berlin und widmete sich dem Schreiben. Nicht sofort fand er einen Verlag, und ist, wie er sagt, „nach Barcelona abgehauen, um dem Druck des ständigen Ausgefragtwerdens zu entgehen.“ Schließlich „auf den letzten Drücker“ klappte es doch: Daniel Keel vom Schweizer Diogenes-Verlag hat das Talent erkannt und 2008 „Becks letzter Sommer“ herausgebracht. Wells erhielt dafür den bayerischen Kunstförderpreis, dotiert mit 5000 €. Sein Roman „Fast genial“, 2011, stand wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste.
Vom Ende der Einsamkeit, Diogenes 2016, 356 S., € 22,70.