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Vladimir Vertlib: Lucia Binar und die russische Seele

Autor Vladimir Vertlib © Kurt Kaindl / Deuticke

Vladimir Vertlib, geboren in Russland und als Fünfjähriger mit seiner Familie aus Leningrad emigriert, schafft es immer wieder mit seinen satirischen Romanen aktuelle Themen auf unterhaltsame Weise anzusprechen. Hauptperson im jüngsten Roman ist die Titelfigur, Lucia Binar, eine 83jährige Lehrerin, die sich nicht alles gefallen lassen will.

Lucia Binar, die teileweise selbst berichtende Hauptperson, kann zwar „damit leben“, wenn sie gleich stirbt, doch so lange sie noch da ist, will sie in der Wohnung in der Großen Mohrengasse (Wien-Leopoldstadt), wo sie aufgewachsen ist, bleiben. Das gefällt dem Hausherrn Willi Neff, den Lucia Binar seit seiner Geburt kennt, gar nicht, er will renovieren und teuer vermieten. Um die Altmieterinnen aus dem Haus zu treiben, lässt er in den leerstehenden Wohnungen Obdachlose, Süchtige und Sandler wohnen. Vorgeblich aus sozialem Engagement.

Lucia ist nach einem Unfall etwas gebrechlich, verlässt selten die Wohnung, versucht ihre Einsamkeit mit dem Rezitieren von Gedichten zu lindern. Als eines Tages das bestellte Mittagessen nicht anrollt, wendet sie sich endlich, bereits schwach vor Hunger und vergeblichem Telefonieren beim sozialen Notruf an. Dort rät ihr eine Elisabeth, doch Mannerschnitten und Knäckebrot zu essen. Frau Binar ist empört und beschließt diese Elisabeth aus dem Callcenter zur Rede zu stellen. Durch Moritz, einen androgynen Studenten der Politikwissenschaft und Neumieter im Mohrengassen-Haus, erhält sie unerwartet Hilfe. Die erste Begegnung der beiden war nicht gerade erfolgreich. Moritz wollte, dass Lucia eine Petition für die Umbenennung der Großen Mohrengasse unterschreibe. Der Name sei nicht mehr politisch korrekt. Lucia sieht keinen Grund für einen Namenstausch und bekommt einen Lachanfall, als Moritz „Große Möhrengasse“ als neuen Namen vorschlägt. Der Abschied fällt etwas frostig aus. Doch als Moritz, so mädchenhaft er erscheint, mit einem Karateschlag den gemeinen und aggressiven Branko, aus der Obdachlosen-Wohnung außer Gefecht setzt und Lucia vorschlägt, ihr bei der Suche nach jener kecken Elisabeth behilflich zu sein, beginnt eine wunderbare Freundschaft. Moritz ist zwar ein sozial denkender Idealist, steht aber trotzdem mit beiden Beinen auf dem Boden unabänderlicher Tatsachen. Bald darf er die alte Lehrerin Lucy nennen. Gründerzeit-Eckhaus Praterstraße / Große Mohrengasse (links) © meinbezirk.at

Rund um die beiden tummeln sich allerhand skurrile Figuren: Der russische Auswanderer Alexander etwa, halb Baschkire, halb Tschuwasche mit deutschen, tatarischen oder mordwinischen Vorfahren. So viel zum Thema Identität und Nationalstolz. Ob Alexander die im Buchtitel erwähnte russische Seele“ verkörpert, ist nicht so ganz klar. Jedenfalls liebt er umständliche, weit ausholende Erzählung, die von seiner neuen Zuhörerin, besagter Elisabeth aus dem Callcenter, jede Menge Geduld verlangen. Wer ihn kennt, nennt ihn „ganz sympathisch aber ziemlich langweilig“. Oder der Magier, Therapeut, Illusionist und laut Plakat auch in vielen anderen Berufen tätige Viktor Viktorowitsch, bei dem Alexander einen lukrativen Job hat und Elisabeth bald bekommen wird. Viktor bietet in einer Großen Séance Entspannung, Läuterung und Selbstfindung an. Lucia Binar und Moritz werden hingehen, zumal die Performance im Nebenhaus stattfindet. Dass Maestro Viktor Viktorowitsch zwar eine russische Seele aber einen Wiener Akzent hat, stört nur zu Beginn der immer turbulenter und fantastischer werdendenZirkus-Sitzung. Am Ende ist ein Bezirksrat im Trachtenanzug in Ulan Bator gelandet, aus dem wilden Branko ist einSoftie geworden, der im Haus Große Mohrengasse die Stiegen wäscht, und Lucia Binar erfährt, dass ihr Wohnhaus und noch zwei andere Häuser in der Großen Mohrengasse ursprünglich einer Familie Apfelbaum gehört hat. Nun ist ein Nachfahre aus Amerika gekommen, Daniel Appletree, um die Häuser für seine Familie zu reklamieren. Ob Lucy bleiben darf, ist jedoch fraglich, denn Appletree hat, wie man hört, vor zu sanieren und teuer zu vermieten oder überhaupt abzureißen.

Vertlib unterhält aufs Köstlichste, lässt kein Klischee aus, um es zu zertrümmern,wie die russische Seele; lässt einen Taxilenker als FPÖ Wähler auftreten, nimmt sich der Asylsuchenden, Obdachlosen und anderer verlorener Seelen an und berührt in seinem Kabarett der Typen soziale, politische und andere Aspekte von heute. Nicht nur Lucy auch die anderen Figuren führen allerdings mitunter recht überflüssige, mich langweilende Dialoge.

Buchcover © DeutickeDennoch, mit Lucia Binar hat er eine Protagonistin gefunden, die, wie viele alte Frauen, nicht nur klug und sympathisch und mit ihrem Willen zum Widerstand sogar beispielhaft ist, sondern auch an den Nerven zerrt. Kein Problem, das tat meine Großmutter auch und meine Mutter so wie so.

Vertlibs Kunst ist es, auch das Tragische und Abgründige komisch erscheinen zu lassen und Tabus wie Klischees der Leichtigkeit der Satire zu unterwerfen. Wunderbar sommerliches Lesevergnügen mit Gelegenheit zum Nachdenken beim Überblättern überflüssig erscheinender Absätze.

Vladimir Vertlib: Lucia Binar und die russische Seele, Deuticke, 2015. 320 S. € 20,50.