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Was Menschen verbindet und was sie trennt

Nobelpreis 2021 für den Autor Abdulrazak Gurnah. © Amrei-Marie / wikipedia

Abdulrazak Gurnah, 1948 in Sansibar geboren, hat zwar 2021 für seine in Englisch geschriebenen Romane den Literaturnobelpreis erhalten, doch im deutschen Sprachraum haben sich seine Romane nicht so richtig durchgesetzt. Jetzt hat Penguin, München, einen neuen Versuch gewagt und den 2017 erschienenen Roman Gravel Heart von Eva Bonné übersetzen lassen. Das versteinerte Herz gehört Salim, einem wie der Autor in Sansibar gegorenen Buben, der seine und die Geschichte seines Geburtslandes selbst erzählt.


Die Flagge von Sansibar, dem halbautonomen Teilstaat des Unionsstaates Tansania in Ostafrika. © wikipedia Salim, ein ängstliches, einsames Kind, wächst in einer muslimischen Familie auf. Sein Vater kümmert sich wenig um ihn, Salim fühlt sich nicht gemocht und akzeptiert Onkel Amir, den Bruder der Mutter als Ersatzvater. Die Mutter und Amir verbindet ein Geheimnis, doch die Schwester betet den Bruder an und dieser weiß das zu nützen. Salim ist sieben Jahre alt, da verlässt der Vater die Familie und mietet sich in der Nachbarschaft ein Zimmer. Ein weiterer Beweis, dass sein Vater ihn nicht will, doch niemand kann ihm erklären, was passiert ist. Neben der Koranschule sind es Bücher, diDie Alte Festung in der Altstadt (Stone Town) von Sansibar, erbaut 1698.  © Mattias Krämer / wikipedia e ihn festhalten. Er liest, was er erreichen kann, und formt sich so sein Weltbild.
Salims Kindheit, von der er erzählt, spielt in den 1970er Jahren, als die Insel Sansibar im Umbruch war, beherrscht von Gewalt und Korruption. Wie tief seine Familie in Intrigen und Verrat verwickelt ist, erfährt er erst von seinem greisen Vater, als er nach Jahren der Emigration auf Besuch nach Sansibar kommt. Nebel über London. Salim fühlt sich nicht wohl im neuen Land, hat auch wenig Lust zum Studieren. Er lässt sich treiben. © wikimedia. 1968 hat auch der 20-jährige Autor Abdulrazak Gurnah seine Heimat Sansibar verlassen, um als Flüchtling nach England zu kommen. Seine Muttersprache ist Swahili, sein literarisches Werkzeug ist Englisch, seine Romane schreibt er auf Englisch, die Themen schöpft er aus dem eigenen Erleben, seine Gedanken kehren immer wieder nach Afrika zurück. Der Markt liegt inmitten der Altstadt, genannt Stone Town. © wikimediaAuch der heranwachsende Salim muss seine Heimat verlassen, Onkel Amir, der mit seiner Frau in London lebt, will es so. Er hat Karriere gemacht, ist im diplomatischen Dienst und möchte Salim nach seinem Bild formen. Das sei er, sagt Amir, seiner Schwester, Salims Mutter, schuldig. Was hinter dieser Behauptung steckt, erfährt Salim nicht. Väterliche Liebe erfährt er von Onkel Amir auch nicht, der gewohnt ist, dass getan wird, was er befiehlt. Holztüre in Stone Town. © Esculapio  / wikimediaAls sich Salim dem autoritären Gehabe des Onkels widersetzt, das vorgeschriebene Studium aufgibt, wird er aus dem Haus geworfen. In der sogenannten großen weiten Welt Europas fühlt sich Salim nicht wohl, die Heimat hat er längst verloren. Er ist empört, dass die Mutter einen Liebhaber, eindeutig aus höchsten Kreisen, hat. Sein Vater war „nur“ ein kleiner Beamte, doch seit er ausgezogen ist, steht er hie und da an einem Marktstand oder tut gar nichts. Für alle Widrigkeiten und auch der Mutter Verhalten macht er den Vater verantwortlich. Salim bekommt keine Antworten auf die Fragen, später fragt er auch nicht mehr.  Die Mutter hat mit dem fremden Mann eine Tochter, er hat mit ihr gespielt, als sie noch ein Baby war.  Ein Durchblick in Stone Town, der sofort nach dem Handy greifen lässt. © wikimedia   Er schreibt der Mutter Briefe, die er nicht abschickt und weiß, dass er nicht zurückkommen kann. Zu viele Bande sind bereits gekappt. Das Studieren gefällt ihm nicht, London ist ihm zu kalt und er ist einsam. So wechselt er immer wieder seinen Aufenthaltsort, reist durch Großbritannien, wohnt eine Weile in Brighton, dann in Dublin. Er lernt in der muslimischen Gemeinde andere Migranten kennen und erlebt die erste Liebe. Schon macht er Heiratspläne, doch die Eltern der Freundin, die zur Hälfte Inderin ist, sind strikt gegen die Verbindung mit einem Afrikaner. Das Leben ist für ihn eine einzige Enttäuschung, sowohl vom Vater als auch von den Frauen fühlt er sich verraten. Immer mehr zieht er sich von der Welt zurück, findet schlecht bezahlte, langweilige Jobs, um sich in einer fremden Welt über Wasser zu halten. Beit al Ajaib, das  Haus der Wunder. In Stone Town 1883 erbaut für den Sultan von Oman. Der ließ das Gebäude als erstes in Ostafrika mit elektrischem Strom ausstatten, sodass er auch einen Aufzug benützen konnte. © wikimedia Erst im letzten Drittel erfährt die Leserin das gesamte Drama dieser zerbrochenen Familie. Als Salim vom Tod der Mutter erfährt, nimmt er sein Erspartes und fliegt in die alte Heimat zu seiner Halbschwester und dem Vater. Der lebte lange Zeit in Kuala Lumpur bei der Familie seines Vaters. Um seine Frau zu begraben – er hat sich niemals offiziell von ihr getrennt –, ist er nach Sansibar zurückgekehrt. Jetzt findet Salim endlich Kontakt zu ihm und stockend, mit langen Ruhepausen, erzählt der Vater, warum er die Familie verlassen hat und welche Rolle Onkel Amir in der ungeheuerlichen Geschichte gespielt hat. Salim versöhnt sich mit seinem Vater, doch in Sansibar bleiben kann und will er nicht. Es hält ihn nichts mehr in seinem Geburtsland und es zieht ihn auch nichts nach England zurück. Doch wo soll er sonst hin? Im Gespräch mit dem Vater sagt er knapp vor seiner Rückreise: Der Haupteingang zum Hamami, dem Bad in der Altstadt von Sansibar. @ wikimedia

Irgendwie hat es die ganze Welt nach London verschlagen. Die Briten haben es nie geschafft, andere in Ruhe zu lassen. Sie haben alles von Wert aus ihnen herausgequetscht und mitgenommen, und nun kommt ein ungepflegter Haufen von Schwarzen und Türken daher und will daran teilhaben.


Der Vater fragt ihn, ob er sich nicht vorstellen kann, zu bleiben. „Doch“, sagt er, aber genauso könne er sich vorstellen, zurückzukehren.

… Aber nun bin ich innerlich zerrissen und weiß nicht, ob ich bleiben oder in ein Leben zurückkehren soll, das mich aufzehrt und eines Tages womöglich verschrumpeln lässt wie Mr. Mgeni. Ich habe das Gefühl, ich muss in mein unfertiges englisches Leben zurückkehren, bis es irgendwelche Früchte trägt oder auch nicht.

Schutzumschlag für das Buch „Das versteinerte Herz. ©  Penguin VerlagMit der Stimme Salims erzählt Gurnah ohne viel Aufhebens von seinem Alltag und der Familie, die im Kleinen die Umbrüche und Zerwürfnisse in Sansibar widerspiegeln. Fast grausam ist es, wie unbemerkt Salims Herz versteinert. Lange Zeit hatte auch Verrat, Schwachheit und Gemeinheit in der Familie auch das Herz des Vaters versteinern lassen. Doch der alte Mann wird zum Vorbild, er hat gelernt, mit dem Schmerz zu leben und kann verzeihen. Vertreibung, Identitätssuche und Isolation sind die Themen, die Abdulrazak Gurnah, der in England und auf Englisch schreibt, in allen seinen Romanen umtreiben. Gurnah erzählt in seinen Romanen von den Entwurzelten, den Migranten und Flüchtlingen und eröffnet damit eine Welt, von der wir keine Vorstellung haben. 2021 hat die Schwedische Akademie Abdurazak Gurnah  „für seine kompromisslose und mitfühlende Durchdringung der Auswirkungen des Kolonialismus und des Schicksals des Flüchtlings in der Kluft zwischen den Kulturen und Kontinenten“ den Nobelpreis für Literatur verliehen.

Abdulrazak Gurnah: Das versteinerte Herz / Gravel Heart, aus dem Englischen von Eva Bonné. 368 Seiten, Penguin 2024. € 26,80. E-Book: € 21.99.