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Ein Leben, fremdbestimmt, heimlich und voll Angst

Jungautor Russell Franklin verblüfft mit einem fulminanten Debüt. © Kein&Aber

Großartig! Kaum zu glauben, dass dieser Roman ein Erstling ist. Doch Russell Franklin, ein unbekannter junger Mann Anfang dreißig aus der kleinen Stadt Solihull in England, hat es geschafft. The Broken Places ist ein perfekter Roman, basierend auf dem schwierigen Leben von Gregory Hemingway, dem jüngsten Sohn von Ernest Hemingway. Auf Deutsch heißt diese fiktionale Biografie Hemingways Kind, was überhaupt nichts aussagt. Greg und /oder Gloria wäre passend oder einfach, angelehnt an den englischen Originaltitel: Kaputte/ beschädigte) Orte, auch Der Schatten des Vaters, ein Mühlstein könnte mir gefallen. Doch Buchtitel werden von der Marketingabteilung diktiert, da haben nicht einmal die Autor:innen etwas zu sagen und rezensierende Leserinnen schon gar nicht.

Papa Hemingway mit seinen beide jüngeren Söhnen, Patrick and Gregory in der Finca Vigía auf Kuba. © Public domainTiefschürfend, mitreißend, unendlich traurig und neue Perspektiven eröffnend präsentiert sich der Inhalt, schmiegsam und elegant die Form in der kongenialen Übersetzung von Michaela Grabinger. Diese „kaputten Plätze“ sind nirgends zu verorten, sie liegen im Menschen selber, sind Risse im Gemüt, dunkle Stellen eines Ichs, dass diese selbst nicht wahrnehmen will. Diese „broken Places“ müssen als Metapher interpretiert werden.
Die Fakten: Gregory Hancock Hemingway ist der jüngste Sohn des Obermachos, Großwildjägers, Hochseeanglers, Autors und Literaturnobelpreisträgers von 1954 und seiner zweiten Ehefrau Pauline Pfeiffer. Gregory, auch Gigi genannt, was er gar nicht leiden kann, er bevorzugt Greg, ist, 1931 geboren und 2001 im Aller von 69 Jahren im Frauengefängnis von Miami als Gloria gestorben. Ernest Hemingway, Gregorys Vater, 1950 auf seinem schwarzen Fischerboot Pilar. Mit seinen beiden Motoren+ sechs Schlaplätzenlg die Pilar meist in Cojimar, Kuba vor Anker. © Public domainEr war wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses festgenommen worden, weil er mit dem Krankenhaushemd über den Schultern, schwarzen Stöckelschuhen und Glitzerschmuck durch die nächtlichen Straßen spaziert war. „Was ich wirklich sein wollte“, bekennt Gregory in seinen 1976 erschienen Erinnerungen Papa: A Personal Memoir „war ein Hemingway-Held.“ 
Dazu wollte Papa (den Kosenamen hat er sich schon in jungen Jahren zugelegt und stets genossen) seinen Lieblingssohn auch heranbilden, zu einem Mann, einem richtigen Mann, gestählt, sportlich und heldenhaft. Schon in der Kindheit hat Gregory an Genderdysphorie, gerne probierte er die feinen Kleider seiner Mutter an, die sich übrigens recht wenig um ihre beiden Söhne Patrick und Gregory gekümmert hat. Als er mit 20 verhaftet worden ist, weil er eine Bar in Frauenkleidern besucht hat, verständigte er den Vater. Weniger verständnisvoll als zornig war dessen Reaktion. Polizeifot von Glorial kurz vor ihrem Tod 2001. © allthatsinteresting.com / Sven Creutzmann/Mambo photoDie meiste Zeit seines Lebens verbrachte Gregory als Mann, hatte Medizin studiert und eine Zeitlang als Landarzt in Jordan / Montana gearbeitet. Die Lizenz wurde ihm allerdings wegen seiner Alkoholkrankheit entzogen. Gregory war fünfmal verheiratet, wobei er seine letzte Frau, Ida Mae Galliher, eine postoperative Transgender-Frau, zweimal geheiratet hat. Die Ehe mit der Sekretärin seines Vaters, Valerie Danby-Smith, währte 20 Jahre. Mit den vier ersten Frauen hatte er acht Kinder: Patrick, Edward, Seán, Brendan, Vanessa, Maria, John und Lorian. Erst in seinen Sechzigern entschloss sich Gregory zu einer geschlechtsangleichenden Operation und nannte sich nur noch Gloria. Gregory hatte Medizin studiert und arbeitete eine Zeitlang als Landarzt in Jordan / Montana. Die Lizenz wurde ihm allerdings wegen seiner Alkoholkrankheit entzogen. Ernest Hemingway hat Gregory früh zum Meiserschützen ausgebildet. © Wikicommons
Zerrieben zwischen dem Wunsch, den Anforderungen des Vaters und den Erwartungen in den Namen Hemingway gerecht zu werden und der Sehnsucht, die weibliche Hälfte auszuleben, kämpfte Gregory / Gloria ein Leben mit den eigenen Dämonen.
Russell Franklin, Autor der fiktionalen Biografie von Gregory / Gloria Hemingway geht überaus respektvoll und sorgsam mit seinem Helden / seiner Heldin um. Er schafft es, ohne zu psychologisieren oder zu interpretieren, Verständnis und Empathie für Gregory / Gloria zu wecken. Dass er der Sohne/ sie die Tochter eines im vorigen Jahrhundert berühmten Vaters war, kann als zusätzliche Belastung angesehen werden. Auch dass im vergangenen Jahrhundert der Themenkreis um Sexualität und Geschlechtsidentität mit einem strengen Tabu belegt war, und Gregory / Gloria mit niemandem über seine innersten Wünsche sprechen konnte, hat ihm / ihr zu schaffen gemacht. Gregory unterzog sich sogar einer Reihe von Elektroschocks, um geheilt zu werden. Gregory mit seinen kubanischen Freunden, Rodolfo Villareal und Ramos Finco, circa 1940.  Die kubanischen Buben aus dem Armenviertel von Havanna wurden von Ernes H. regelmässig zum Baseball-Spiel in den Garten geholt.  © José Goitia for The New York Times / gemeinfrei So geht der Roman weit über die Geschichte eines Menschen hinaus, ohne es explizit zu betonen, hebt Russell Franklin den schwarzen Schleier von dem immer noch gepflegten Tabu und wirbt für Verständnis für alle Menschen, sie nicht so sind, wie wir, wie wir sie haben wollen.
Die Frage „Was ist normal“ stellt sich mir nach der Lektüre dieses noblen und bestens recherchierten Romans nicht mehr. Jeder Mensch, es sind rund 8,12 Milliarden auf dem Planeten,  ist ein Individuum, ob Frau, Mann, dem LGBT_Spektrum zugehörig und alle, die in gar keine Einteilung passen. Die sogenannte Normalität ist eine Chimäre, jedes Individuum will auch einer Gemeinschaft angehören, manche passen sich an, ordnen sich unter, um geliebt zu werden, andere werden an den Rand gedrängt, als „nicht normal“ abgestempelt. Die gleiche Diversiät gilt auch für die Herkunft, die Hautfarbe, Normal“ heißt, der Norm (einer Regel) entsprechend.  Doch wer bestimmt, was die Norm ist? Die Mehrheit hat sich schon viel zu oft geirrt. Christine Jorgensen, 1954.  Jorgensen (1926–1989) war die erste Transgender-Person, die durch ihre gesclechtsangleichende Person in die große mediale Aufmerksamkeit in den Vereinigten Staaten erhielt. Diese nutzte sie zur Bewusstseinsbildung zu Transgender-Themen sowie für eine Karriere in der Unterhaltungsindustrie. Der Schatten des Vaters hinderte Gregory am gleichen Weg. © gemeinfrei Russell Franklin bestimmt gar nichts, er erzählt eine Geschichte von einem Mann, der nicht nur jagen und kämpfen will, sondern auch seine sanfte Seite in feinen Kleidern leben möchte. Dazu blickt der Autor immer wieder auf die Kindheit Gregorys, in der natürlich der Macho-Papa die Hauptrolle gespielt hat. Gregorys Leben entwickelt sich als Stationendrama von Ort zu Ort, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, allerdings nicht chronologisch, sondern mit regelmäßigen Sprüngen zurück in eine nicht nur angespannte Kindheit. Papa Hemingways Romane waren nie eine Lektüre für Frauen und sind heutzutage ziemlich angestaubt. Franklins Roman ist brandaktuell und durch die heute endlich diskutierte Thematik überaus lesenswert. Auch, weil Franklin, der in einer Literaturagentur arbeitet, wie ein Alter schreiben kann. Hemingway Gregory: Papa: A Personal Memoir, Cover der Ausgabe von 1976. © beim Verlag, Houghton Mifflin Harcourt. Dem Roman ist ein Zitat von Ernest H. vorangestellt: Die Welt bricht jeden, und danach sind viele an den gebrochen Stellen stark. Doch das nicht alles, was Hemingway in seinem Roman, A Farewell to Arms, Scribner 1929 / In einem andern Land, Rowohlt 1930, Rowohlt TB, 13. Auflage 1999.

Die Welt zerbricht jeden, und nachher sind viele an den zerbrochenen Stellen stark. Aber die, die nicht zerbrechen wollen, die tötet sie. Sie tötet die sehr Guten und die sehr Feinen und die sehr Mutigen; ohne Unterschied. Wenn du nicht zu diesen gehörst, kannst du sicher sein, dass sie dich auch töten wird, aber sie wird keine besondere Eile haben.

Russell Franklin: Hemingway Kind, aus dem Englischen von Michaela Grabinger. 461 Seiten. Kein&Aber 2013. € 26,80. E-Book € 18,99. Buchumschlag für den Roman von Russell Franklin. © Kein&Aber
Gregory H. Hemingway MD: Papa: A Personal Memoir, Houghton Mifflin Harcourt 1976. *) Nicht übersetzt.
John Hemingway: Strange Tribe, A Family Memoir, Lyons Press 2007*). Nicht übersetzt.
Lorian Hemingway: Walk on Water: A Memoir, Simon & Schuster, 1998*). Deutsch: Es war einmal ein Fluß …, aus dem Amerikanischen von Leon Mengden, btb 2000 (nur noch antiquarisch erhältlich).
Valerie Hemingway: Running with the Bulls: My Years with the Hemingways. ‎ Ballantine Books; 2005 Reprint Edition, illustriert. Keine Übersetzung vorhanden.
*) Als weiterführende Literatur vom Autor oder dem Verlag empfohlen.