Anna Enquist – Streichquartett
Der neue Roman von Anna Enquist ist zwar in Amsterdam, ihrer Heimatstadt, angesiedelt. Doch könnte jede andere Stadt, auch Wien, der Schauplatz sein. Die Förderung billiger Eventkultur und die Streichung der Subventionen für Kunst und Kultur, ist nicht nur ein niederländisches Phänomen. Die Autorin glaubt jedoch weiterhin daran, dass die Kunst, was sie selbst betrifft, vor allem die Musik, Wunden heilen und die Welt verbessern kann.
Anna Enquist, geboren 1945 in Amsterdam, ist ausgebildete Konzertpianistin und Psychoanalytikerin. Beide Berufe fließen auf wunderbare Weise in ihren Roman ein. Sie selbst hat erfahren, wie heilsam Musik sein kann, als ihre Tochter mit 27 Jahren bei einem Verkehrsunfall gestorben ist.
Im Streichquartett kommt es auf jede einzelne Mitspielerin an und auch die Beziehungen untereinander sind wichtig. Im Roman sind es vier Freunde / Freundinnen, die sich regelmässig zur Hausmusik zusammenfinden. Jede(r) – die Ärztin Carolien, ihr Mann Jochem, Bratschist und Geigenbauer, die Krankenschwester Heleen und Hugo, noch Leiter eines Musikzentrums – suchen Ablenkung vom aufreibenden Alltag und Trost in Not und Leid.
Nach einer gelungenen Geburtstagsmusik für einen Freund mit dem Dissonanzenquartett von W. A. Mozart, scheinen auch die internen Reibereien geglättet und die Vier treffen einander mit Freude und hohen Erwartungen zur nächsten Probe. Die Musik wird das Band untereinander festigen und ihnen Glück, oder zumindest glückliche Stunden, schenken. Doch der schöne Abend endet in einer Katastrophe, Brutalität und Gewalt dringen von außen ein. Der ruhig fließende Roman wird zum aufwühlenden Kriminalroman.
Die Reaktionen der Vier sind ganz unterschiedlich. Carolien, die es nicht verwinden kann, dass ihre beiden Kinder bei einem Unfall des Schulbusses verloren hat, erstarrt zu Stein. Hugo reagiert mit Gegengewalt, zerschlägt in seiner Hilflosigkeit das eigene Instrument; die naive Heleen versucht den Eindringling mit Musik zu beruhigen und Jochem absentiert sich einfach. Der Eindringling vollendet sein zerstörerisches Werk.
Die Hymne an die Musik ist nicht das einzige Thema dieses vielschichtigen Romans. Es geht auch um das gesellschaftliche Umfeld, die Folgen des Neokapitalismus, die Missachtung, ja Zerstörung, kultureller Werte, den Zerfall des Gesundheitswesen, Korruption und Nepotismus und um den eigenen Umgang mit plötzlich hereinbrechenden Katastrophen.Dazu beobachtet Enqvist auch die Erschwernisse des Alterns. Eine fünfte Person nämlich bist eng mit dem Quartett verbunden, der alte Lehrer, einst ein berühmter Cellist, jetzt paranoid von Ängsten, vor allem von der abgeschoben zu werden, geplagt. Doch auch er erfährt Trost und Hilfe: Der junge Sohn marokkanischer Einwanderer interessiert sich für Musik und wird auch so etwas wie der Betreuer des alten Mannes.
Es sind die Kinder, die trotz des finalen Desasters die Hoffnung schimmern lassen. Auch Laura, die dreijährige Tochter Hugos, die während des Musizieren auf dem Boot geschlafen hat, wird gerettet. Alle vier Musikantinnen überleben. Wie sie weiterleben erfahren wir nicht.
Zurecht gilt Anna Enquist als eine der wichtigsten europäischen Autorinnen. Zuletzt war sie Stadtschreiberin in Amsterdam und hat sich vor allem der Lyrik gewidmet.
Trotz des schrecklichen Endes ist „Streichquartett“ ein tröstliches. Buch. Liebhaberinnen kluger Prosa (in ausgezeichneter Übersetzung) wird es aus der Seele sprechen, die die es angeht werden wieder mal kein Zeit dafür finden.
Anna Enquist: „Streichquartett“, übersetzt von Hanni Ehlers, Luchterhand 2015. 288 S. € 20,60.