Thierry L. Jaquemet: „Flora Fabbri“, Biografie.
Flora Fabbri war eine italienische Tänzerin im 19. Jahrhundert. Wie Marie Taglioni oder Carlotta Grisi war sie berühmt für ihren Spitzentanz als feenhaftes Wesen. Im Gegensatz zu ihren Kolleginnen hat sich ihr Ruhm keine 100 Jahre gehalten. Mit der Biografie will der Schweizer Tänzer Thierry L. Jaquemet Flora Fabbri wieder in die Tanzgeschichte einreihen.
Fabbri war die jüngste von den berühmten romantischen Tänzerinnen, doch während Taglioni, Grisi oder Fanny Elßler bis heute den meisten Tanzfreunden bekannt sind, hat sich Fabbris Ruhm, wie der Tanz selbst, in Luft aufgelöst. Nur wenigen Fachleuten, die sich besonders intensiv mit dem Spitzentanz beschäftigen, ist Fabbri ein Begriff. Andere wissen lediglich, dass man nichts von ihr weiß.
Der Schweizer Tänzer Thierry L. Jaquemet hat bei einem Antiquitätenhändler ein Bild von Flora Fabbri gesehen und sich gewundert, dass er noch nie etwas von ihr gehört hat.
Viel umher reisen und in ausländischen Archiven zu forschen, vor allem in England, Italien und Frankreich, wo Fabbri Triumphe gefeiert hat, war dem jungen Autor nicht möglich. Er hat sich vor allem auf Zeitungs- und Magazinausschnitte verlassen, wo Fabbris Auftritte meistens hymnisch gefeiert worden sind. Dass die Tänzerin keine Chimäre ist, unwirklich und ephemer, beweisen die Bilder, die von ihr erhalten sind. Aber schon ihr Geburtsdatum lässt sich nicht genau feststellen. Sie ist in Florenz geboren, doch ob es wirklich 1822 war, lässt sich nicht eruieren. Dem Autor und seinem Verlag gefällt das Datum, so kann die Biografie zum „200. Geburtstag“ der Tänzerin auf den Markt geworfen worden. Anhand ihrer Auftritte lässt sich auch ein ungefähres Todesdatum erahnen, 1880 meint der Sachbuchverlag. Im italienischen biografischen Lexikon des Istituto della Enciclopedia Italiana fondata da Giovanni Treccani, wird für beide Daten: „unbekannt“ angegeben.
Einig sind sich alle dieser spärlichen Chroniken, dass Flora Fabbri ihren älteren Kolleginnen in nichts nachgestanden ist. Ihr Vater, Giovanni, war wie dessen Vater, Alessandro, ein erfolgreicher Choreograf, der seine Tochter früh zur Ballerina erzogen hat. Schon mit fünf Jahren musste sie Tanzunterricht nehmen; mit sieben wurde sie in die Perfektionsklasse von Auguste Vestris, dem „Gott des Tanzes“, aufgenommen. Später wechselte sie an die Schule der Scala in Mailand, wo sie von Carlo Blasis (1797–1878) unterrichtet wurde und bald in die Reihen der Plejaden, so wurden die bevorzugten Schülerinnen Blasis genannt, aufgestiegen ist. Der Beginn ihrer Karriere kann mit 1837 datiert werden, als Halbsolistin ist sie in Choreografien ihres Vaters aufgetreten. In der Karnevalssaison 1838 konnte man Flora Fabbri im Teatro Apollo von Rom in einem Ballett mit dem Titel „Orest und die vier Temperamente“ (Choreograf unbekannt) bewundern. Doch noch war die Hochblüte des romantischen Balletts nicht am Ende und Fabbri erhielt Einladungen nach London und Paris. Am 30. Mai 1845 debütierte sie an der Pariser Oper in den Divertissements in „Robert, der Teufel“ von Giacomo Meyerbeer und trat in der Folge auch an reinen Ballettabenden auf. Wenige Monate später debütierte sie mit dem bereits in Paris gezeigten Ballett „Le diable à quatre“ zur Musik von Adolphe Adam im Drury Lane Theater von London, wo ihre „Grazie und Spontanität“ besonders gelobt wurden. Flora Fabbri war am Höhepunkt ihrer Karriere, nach einem Auftritt im Covent Garden wurde sie von einem Kritiker gar der Grisi vorgezogen. Paris, Brüssel, Hamburg, Madrid oder Leipzig und Königsberg, wo immer Flora Fabbri sich mit anmutiger Leichtigkeit auf die Spitze stellte, wurde ihr gehuldigt. Doch die Ära des romantischen Balletts neigte sich allmählich ihrem Ende zu, hauchzarte ephemere Gestalten waren nicht mehr gefragt, die Frauen im Publikum wollten keine Tüllröcke, sondern das Wahlrecht. Die Berichte über die Fabbri wurden immer seltener,1853 war sie in Spanien und hat im Teatro Oriente von Madrid die Titelrolle in „Giselle“ getanzt, auch die königliche Familie applaudierte ihr. Gegen1860 hat sich Flora Fabbri von der Bühne zurückgezogen und den Rest ihres Lebens in Robella in der Provinz Asti verbracht. Jetzt muss noch der Untertitel erklärt werden, den Autor Jaquemet seinem schlichten Werk gegeben hat: „Eine Kämpferin trägt Tüll“ sagt er über seine Entdeckung. Der Tüll ist klar, es ist dieses hauchzarte Gewebe, dass gerne als Vorhang verwendet wird und in mehreren Lagen das Tutu der Ballerina bildet. Dass Flora Fabbri eine Kämpferin war, bewies sie gemeinsam mit ihrem Mann, dem Tänzer Louis Bretin, in London. Louis Bretin war bereits ein viel geliebter Tänzer, als Flora die Bühne eroberte und er fand Gefallen an ihr. Zuerst als Partnerin im Theater, schon bald aber auch im Bett. 1842 heirateten die beiden Stars in Paris. Bretin war 32 Jahre alt, Fabbri 20. Von da an trat das Ehepaar so gut es ging gemeinsam auf. Was ihre Kunst betraf, so waren sie einander ebenbürtig. So waren auch beide am Drury Lane Theatre in London beschäftigt, als Flora ihre Krallen ausgestreckt hat. Die Unstimmigkeiten entstanden, als das Paar in einem Divertissement in der Oper „Alessandro Stradella“ von Friedrich von Flotow eingeteilt war, fanden die beiden, dass ein so mickriger Einsatz nicht ihrem Vertrag entsprach und ihrem Ruf schaden könnte. Das Ehepaar entschloss sich zu streiken. Direktor Bunn wollte auf die goldenen Eier, die ihm das Tanzpaar jeden Abend bescherte, nicht verzichten und änderte kurzerhand die Programmansage. Statt eines „Divertissement“, einer kleinen Balletteinlage, waren sie nun für ein „grand ballet entertainment“ gebucht. Ihre Weigerung sah Bunn als Vertragsbruch an. Die Anwälte beider Parteien bekamen zu tun. Die Bretins hatten allerdings nicht damit gerechnet, dass sich die britischen Medien hinter Bunn stellten, die Gegner waren schließlich Ausländer. Dann gab es auch noch Stress wegen einer nicht ausbezahlten Gage. Der Prozess zog sich hin, weil keine Zeugen aufzutreiben waren. Schließlich musste Bunn klein beigeben, er hatte nämlich noch einen zweiten Prozess laufen, seine Gegnerin war die Operndiva Jenny Lind. Bunn hat nachgegeben, den Bretins das fehlende Honorar bezahlt und soagr die Verfahrenskosten ersetzt. Die Kämpferin im Tüll hatte gewonnen und das Publikum in England feierte sie nach wie vor. Jaquemet hat sich viel Mühe gegeben, aus den kargen Unterlagen das Leben und die Karriere von Flora Fabbri zu rekonstruieren. Er erzählt plaudernd von den großen Erfolgen der Ballerina, geriert sich nicht als Wissenschaftler, ist vielmehr ein neuer Verehrer der einst so bekannten Tänzerin mit der „Leichtigkeit eines Schmetterlings“. Nach einer Vorstellung im norditalienischen Badia, wo beide zu Ehren der Schwester Flora Fabbris, Elena, einer gefeierten Opernsängerin, getanzt haben, spannten sich begeisterte Verehrer vor die Kutsche und zogen sie in das Domizil des Paares, während die Fans mit Fackeln am Wegrand standen. Eine Musikkapelle schloss den Umzug mit einer Serenade ab. Unvorstellbar. Jaquemet, der im Staatsballett Györ engagiert war und für seinen „Beitrag an das Kulturleben der Stadt“ zum Ehrenbürger ernannt worden ist, analysiert nicht nur die damalige Theater- und Engagementpraxis. Er erzählt auch Grundsätzliches über das romantische Ballett und die im 19. Jahrhundert umjubelten Ballerinen in Tüll und Spitzenschuhen.
Thierry L. Jaquemet: „Flora Fabbri. Eine Kämpferin trägt Tüll“, Rüffer & Rub, 2022. 280 Seiten, bebildert, mit ausführlichem Anhang. € 24,70
© für die Buchillustrationen im Anhang des Buches.