Kent Haruf: „Kostbare Tage“, Roman
Allmählich ist das halbe Dutzend Romane aus der fiktiven Kleinstadt Holt in Colorado, das der 2014 verstorbene amerikanische Schriftsteller Kent Haruf hinterlassen hat, auch in der deutschen Übersetzung voll. Sein letztes Buch, die Liebesgeschichte „Unsere Seelen bei Nacht“, ist als erstes für den Diogenes Verlag übersetzt worden und hat deutschsprachige Leser*innen sofort begeistert. Nun ist, nach „Lied der Weite“ („Plainsong“, 1999) und „Abendrot“ („Eventide“, 2004) auch die vorletzte Geschichte, „Benediction, 3013“ unter dem Titel „Kostbare Tage“ auf Deutsch erschienen. Haruf erzählt vom alten Dad Lewis, der weiß, dass er an Krebs sterben wird. Die Bewohner*innen von Holt und seine Frau Mary lassen ihn nicht allein.
Wer mit Haruf durch Holt, das Städtchen, in dem alle Romane von Kent Haruf spielen, spaziert, mit dem Pick-up in die nächste Stadt fährt oder mit Dad Lewis am Fenster sitzt, wird unwillkürlich an die kleine Stadt Grover’s Corner erinnert. Sie ist so fiktiv und zugleich so real wie Holt. Auch wenn Grover’s Corner in New Hampshire weit entfernt von Holt liegt und die Bewohner*innen bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelebt haben, sind der Alltag, die kleinen Dramen und großen Skandale einander ähnlich. „Unsere kleine Stadt“ („Our Town“) ist ein Theaterstück von Thornton Wilder (1897–1975), der vor allem durch seinen Roman „Die Brücke von San Luis Rey“ bekannt geworden ist. In beiden Städten, Grover’s Corner und Holt, leben gewöhnliche Menschen, die sich mit dem Leben abplagen, mit einem Leben, das sie im Grunde nicht verstehen, aber eben leben, weil es nichts anderes gibt.
Wilder war ein Humanist, der sich auch mit der Existenz einer höheren Macht und dem Sinn des Lebens auseinandergesetzt hat, Kent Haruf braucht keine höhere Macht und denkt auch über Sinnfragen nicht nach, für ihn ist die Macht der Liebe das zentrale Thema. Ob die erste Verliebtheit zweier Teenager, die reife Liebe eines alten Paares, die Liebe der Eltern für ihre Kinder oder die Liebe der Mitmenschen für die Armen, Schwachen und Alten. Holt ist natürlich nur auf den ersten Blick ein friedlicher Ort, neben Hilfsbereitschaft und Aufrichtigkeit haben auch Gemeinheit und Verbrechen, Tratsch und Klatsch ihren Platz in Holt. Größere Aufmerksamkeit gewann Haruf durch die Verfilmung seines letzten Romans, "Unsere Seelen bei Nacht" mit Jane Fonda und Robert Redford. 2017 hat Redford, der nicht nur Hauptdarsteller, sondern auch Mitproduzent war, die wie im Roman schön und ruhig erzählte Geschichte bei den Filmfestspielen in Cannes vorgestellt.
Vorherrschend aber ist die allgemeine Fürsorge füreinander und der lange, ruhige Fluss des Lebens. Sie nehmen ihn, wie er kommt und versuchen, das Beste daraus zu machen. Auch wenn das Sterben von Dad Lewis im Mittelpunkt steht, so ist der Roman keineswegs niederdrückend, sondern eher aufmunternd. An einem seiner letzten Tage lässt Dad sich von seiner Tochter Lorraine durch die Umgebung kutschieren, um Abschied von all den Orten in der Prärie von Colorado zu nehmen. An einem anderen veranstaltet Lorraine mit zwei Freundinnen, Mutter und Tochter, und der Schülerin Alice, die bei ihrer Großmutter lebt, ein Picknick und dann entledigen sich alle vier voll Übermut ihrer Kleider und baden in der Tränke für die rundum weidenden Kühe.
Dad Lewis liegt zwar im Sterben, wird von seiner Frau Mary und der Tochter geliebt, von seinen beiden Angestellten in der Eisenwarenhandlung geachtet, doch macht ihn der Autorer keineswegs zu einem Heiligen.
Auch seine Schattenseiten sind notiert, wie auch die Abneigung gegen seinen Vater, der ihn in der Kindheit gequält hat. Die längst verstorbenen Eltern, seine beiden Angestellten und sein Sohn Frank erscheinen ihm im Traum. Den schwulen Sohn Frank hat er aus dem Haus geworfen und verzeiht ihm auch nicht, als der stumm vor ihm sitzt. Mit einem betrügerischen Buchhalter ist er ebenso gnadenlos umgegangen. Bereut hat er es nicht, dass er ihn entlassen hat, doch unterstützt jer ahrelang dessen Frau und die Kinder, nachdem sich der Dieb umgebracht hat.
Der Autor ist ein stummer Chronist, ruhig und gelassen zeichnet er die kleinen Sprudel und großen Wellen des Flusses auf, kommentiert nicht, urteilt nicht. Auch wenn in Holt kein Blatt vom Baum fällt, ohne dass es sofort der gesamte Ort weiß, ist die Chronik von Holt doch beruhigend, kein loderndes Feuer sorgt für Aufregung, aber der warme Schein der Glut umhüllt alles wie die Wolldecke auf Dad Lewis Knien. Die Liebe zu seinen Figuren hat der Pfarrersohn Kent wohl in seinem Elternhaus in Pueblo, Colorado, mitbekommen.
Kent Haruf: „Kostbare Tage“, „Benediction“, aus dem Amerikanischen von pociao und Roberto de Holanda, Diogenes 2020, 2. Auflage. 352 S. € 24,70