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Claire Fuller: „Unsere unendlichen Tage“, Roman

Claire Fuller, geboren 1967 in Oxfordshire / England. © Adrian Harvey/ Piper

Nach den beiden erfolgreich übersetzten Romanen „Eine englische Ehe“ und „Bittere Orangen“ (Originaltitel „Swimming Lessons“, 2017 und „Bitter Orange“, 2018) ist nun auch Claire Fullers Debütroman „Our Endless Numbered Days“, 2015, übersetzt. „Unsere unendlichen Tage“ erzählt von einem Vater, der allerlei Verschwörungstheorien erliegt und mit seiner heranwachsenden Tochter in einer menschenleeren Waldgegend den Weltuntergang überleben will. Naturschilderungen sind die schöne Seite dieses anrührenden Romans, der Überlebenskampf und die Konflikte mit dem Vater die bedrückende Seite dieses Romans.

Kein Ort der Erholung für Peggy, der Wald, in dem sie mit ihrem seltsamen Vater neun Jahre verbracht hat. © pixabay / gmeinefreiSieben Jahre lang lebt Peggy glücklich mit Vater und Mutter im Haus mit Garten am Rand von London. Die Mutter, Ute, ist eine deutsche Konzertpianistin und immer wieder auf Reisen, der Vater, James, gibt sich seinen Träumen hin, Geldsorgen hat er keine. Alles ist gut, bis James sich einer Gruppe anschließt, die weiß, dass die Welt demnächst untergeht und nur wenige gerettet werden können. James baut den Keller zu einem Bunker aus, lagert Lebensmittel ein und bereitet auch seine Tochter auf die nahende Katastrophe vor. Ute geht wieder auf Konzerttournee und Peggy bleibt mit dem Vater allein. Der erlaubt ihr, die Schule zu schwänzen, denn, so meint er, wer etwas Besonderes ist, muss sich nicht an die Regeln halten. Klingt in Zeiten wie diesen vertraut.
Der Sommer naht, Peggy hat Ferien und freut sich, diese mit dem Vater zu genießen. Als er, nachdem er ihr jede Menge absurder Überlebensregeln beigebracht hat, befiehlt, den Rucksack zu packen, wie sie es im Takt der Trillerpfeife gelernt hat, und von einem Ausflug spricht, ahnt die Neunjährige nichts Böses. Bald muss sie erkennen, dass der Vater keine Anstalten macht, nach Hause zurückzukehren. Das Jammern und Weinen der hinter ihm her stolpernden Tochter berührt ihn nicht, er wandert quer durch das Land, über Berg und Tal, überqueren einen Fluss, in dem Peggy fast ertrinkt, durchwaten morastigen Grund, in dem sie einen Schuh verliert und fortan mit einem gebastelten Ersatz humpeln muss. In der Hütte war kaum Platz für zwei ,und der Wind pfiff durch die Ritzen.  © Karsten Madsen / Pixabay.com Die Hütte, die James seiner Tochter als Refugium versprochen hat, entpuppt sich als total verfallen, niemand würde noch darin wohnen wollen. Spätestens jetzt ist der Leserin klar, dass Claire Fuller keinen Roman im Sinne von Henry Davon Thoreau geschrieben hat. „Walden oder Leben in den Wäldern (Originaltitel „Walden, or Life in the Woods“ ist das Tagebuch Thoreaus, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts einige Jahre in einer Blockhütte gelebt hat, die er sich am See Walden Pond (Concord / Massachusetts) auf einem Grundstück des Dichters Ralph Waldo Emerson gebaut hatte. „Walden“ ist schnell zur Bibel aller Alternativen und Aussteiger geworden und bis heute geblieben. Mit einer Anspielung auf Thoreaus Aufzeichnungen hat der Schweizer Filmemacher Daniel Zimmermann seinen großartigen Film über die paradoxe Logik globalisierter Handelsrouten am Beispiel eines Baumes aus einem österreichischem Wald „Walden“ genannt. Zimmermanns „Walden“ ist so wenig romantisch wie Peggys Bericht über die neun Jahre mitten im Wald mit dem verwirrten James, der für ein Leben abseits der Gesellschaft wirbt. Im Winter steckte die Hütte oft bis unters Dach im Schnee, und  die Vorräte gingen zu Ende. © pixabay / gemeinfrei In mühsamer Arbeit wird aus der dreckigen Ruine ein Ort, in dem Vater und Tochter halbwegs vor Wind und Wetter geschützt sind, und, wie der Vater sagt, bleiben müssen, weil der Rest der Welt verseucht ist und die Menschheit ausgestorben ist. Die Neunjährige muss alles glauben, sie ist auf den Vater angewiesen, einzig in ihrer Puppe findet Peggy etwas Trost, mit ihr pflegt sie zu kommunizieren. Aus einigen in die Holzwand der Hütte eingeritzten Zeichen meint Peggy den Namen eines Mannes herauszulesen: Reuben heißt er und sie möchte wissen, wo er jetzt ist. Ihren eigenen Namen hat sie längst vergessen, weil ihr Vater sie nur noch Punzel nennt, nach einem selbst ausgedachten Märchen, das er ihr erzählt hat. Die Winter überleben Vater und Tochter nur mit größter Not, auch im Sommer ist Nahrung nicht immer verfügbar. Der Vater versucht zwar, zu jagen und zu fischen, doch genauso oft schickt er Punzel aus, um Pilze zu sammeln, die den Hunger kaum stillen. Romantisch ist dieses Leben in der Natur keineswegs. "Walden", Orginalausgabe des Werks von Henry D. Thoreau. © gemeinfrei Peggy wird allmählich erwachsen, sehnt sich nach einem Partner. Sie lernt einen jungen Mann kennen. Ihr ist klar, dass das Reuben ist, der seinen Namen in die Hütte geschnitten hat. Fortan ist der Vater nicht mehr der Einzige, der ihr die Welt erklären kann, und Peggy lernt, wozu der Vater, der zusehends wahnhafter wird, nicht fähig ist, oder vielleicht auch nie war, Peggy lernt zu lieben. Ihrem Vater erzählt sie nichts davon, allmählich entfernt sie sich von ihm. Zuerst nur geistig und emotional, sie weiß, niemals würde sie der völlig verwirrte James gehen lassen. Nur über seine Leiche kann sie entkommen. Sie wird mit Reuben gehen, träumt sie.
Dass Peggy dem Horrorfilm in dem sie neun Jahre leben musste, entkommt, lässt die Autorin ihre Leserinnen gleich zu Beginn wissen, ist doch das Mädchen selbst die Erzählerin ihrer Geschichte. 1985 ist sie wieder zu Hause in London, die Mutter hat ihre Tochter wieder und ist vom Verdacht sie ermordet zu haben, befreit. Dennoch bietet das Ende dieses dystopischen Abenteuers einige Überraschungen. Das englische Coverbild von Claire Fullers Roman. © Tin House Books
Claire Fuller hat erst mit 40 Jahren zu Schreiben begonnen und für ihren Debütroman gleich den Desmond-Elliott-Prize erhalten. „Our Endless Numbered Days“ ist in elf Sprachen übersetzt worden. Es ist ein leicht lesbares Buch, falls man sich durch den etwas tranigen Beginn durchkämpft. Ab dem Moment, wenn Vater und Tochter allein sind, weil die Mutter auf Konzerttournee ist, wird die Geschichte spannend und aufregend. Perfekt bedient sich die Autorin der einfachen Sprache eines jungen Mädchens, das nicht analysiert oder psychologisiert, sondern einfach erzählt, wie es war damals, als der Vater ihr eingeredet hat, dass sie die letzten Überlebenden einer Katastrophe seien. Vermutlich hat er selbst daran geglaubt. Wie auch in Zeiten der real existierenden Pandemie abstruse Glaubensinhalte wuchern wie Fliegenpilze.
Doch Claire Fuller wollte kein Lehrbuch schreiben und auch nicht das Für und Wider Claire Fuller: "Unsere unendlichen Tage" Buchcover. © Piper Verlagder Prepper-Mentalität diskutieren. Eher ist ihr erster Roman im Fach für den Bildungsroman beziehungsweise die Coming-of-Age-Literatur, wie der Entwicklungsroman des 19. Jahrhunderts seit Mitte des 20. Jahrhunderts gern genannt wird, abzulegen. Die Mischung aus beruhigender Naturschilderung und dem aufregenden Überlebenskampf, dem Heranwachsen eines naiven Mädchens und der allmählichen Sinnesverwirrung des Vaters lassen die leicht lähmende Ungelenkigkeit des Romanbeginns schnell vergessen. Von einem Debütroman ist nicht zu verlangen, dass er der hohen Literatur anzurechnen ist, „Unsere unendlichen Tage“ ist pure Unterhaltung, wenn der Roman auch reichlich Stoff zum Nachdenken birgt.

Claire Fuller: „Unsere unendlichen Tage“, „Our Endless Numbered Days“, aus dem Englischen von Susanne Hbel, Piper 2021. 320 Seiten. € 22, 70.