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Ljudmila Ulitzkaja: „Eine Seuche in der Stadt“

Ljudmila Ulitzkaja, Österr. Staatspreis 2014. © APA/

Moskau 1939, ein Arzt schlägt Seuchenalarm. Doch die Pest bricht nicht wirklich aus. Stalins Geheimdienst reagiert schnell und effizient. Gebäude, Stadtviertel werden unter Quarantäne gestellt, Menschen aus den Betten geholt und isoliert. Nur drei Tote gibt es, „Lungenentzündung“ wird als Ursache angegeben. Ljudmila Ulitzkaja hat für ihr 1978 entstandenes Manuskript eine wahre Begebenheit als Basis genommen und erzählt in filmreifen Kadern einen Thriller. Als „Szenario“ hat der Hanser Verlag Uitzkajas Niederschrift jetzt veröffentlicht.

Die Pest zu Zeiten der politischen »Pest«.
Dieses Szenario erzählt von einer drohenden Pestepidemie in Moskau im Jahr 1939, die durch das schlimmste und mächtigste Machtinstrument jener Zeit gestoppt wurde, durch das NKWD, den Geheimdienst der UdSSR“ (Nachwort von Ljudmila Ulitzkaja, 2020.)

Pandemie-Performance in Wien, Jänner 2021. © Bwag/ wikipediaDas Manuskript hat die Autorin bereits als 35jährige geschrieben. Die Grande Dame der russischen Literatur hat das auf einer 40 Jahre zurückliegenden tatsächlichen Seuchengefahr beruhende Protokol für ein Drehbuchseminar eingereicht. Es wurde nicht angenommen, das Manuskript blieb in der Lade. Jetzt passt es, und als Leserin des spannenden Berichts, wie der Ausbruch einer Seuche, bevor Panik und eine Epidemie entsteht, verhindert worden ist, lässt das Gewurschtel in den mitteleuropäischen Demokratien nahezu als Glücksfall erleben. Denn dieses geschilderte effiziente Kontakt-Tracing und die in wenigen Stunden erfolgte  Isolation sämtlicher K1-Personen, lassen sich nur mit Hilfe der unmenschliche Maschine einer Diktatur durchführen. Seuche SimonGorelik de rbth comBei einem eben eingelieferten Patienten hat der diensthabende Arzt Lungenpest diagnostiziert. Er meldet den Verdacht, bleibt mit dem Sterbenden in Quarantäne, stirbt später selbst. Und noch ein dritter Infizierter stirbt. Nach fünf Tagen ist die Gefahr gebannt. Stalins Geheimdienst hat in einer unheimlich präzisen Kontaktverfolgung sämtliche K1-Personen isoliert. Seuchen waren in der Sowjetdiktatur nicht vorhanden, auch der infizierte Patient und sein Arzt sind an einer Lungenentzündung gestorben. Jegliches Gerücht ist im Keim erstickt worden, die Menschen wussten nichts von einer möglichen Epidemie, lebten ohnehin in dauernder Angst vor den Schergen des Geheimdienstes.
Im Hotel National in Moskau ist der Biologe aus Saratow abgestiegen, ohne zu wissen, dass er bereits infiziert war. Foto von 2011. ©  A.Savin  / Wikimedia Commons WikiPhotoSpace Die Tatsachen, auf denen der Bericht basiert, sind längst bekannt: Der erste infizierte Patient war der Mikrobiologe Avram Berlin, der an einem Impfstoff gegen die Pest geforscht hat. Ohne dass er gewusst hat, bereits infiziert zu sein, hat er sich zu einem Vortrag über die Fortschritte seiner Forschung nach Moskau begeben. Vor seinem Auftritt hat er sich noch rasieren lassen. Der Friseur war das dritte und letzte Opfer der Lungenpest. Der Mediziner Simon Gorelik hatte die vermeintliche Lungenentzündung als Pest diagnostiziert und sich nach der Meldung an die Behörden selbst in Quarantäne begeben. Er ist wie Abraham Berlin gestorben.
"Der Doctor Schnabel von Rom", kolorierter Kupferstich eines Pestdoktors von Paul Fürst, um 1656. © Foto von Bernt Notke / wikipediaDie Autorin hat die Namen verschlüsselt und sich ihre eigenen Gedanken über das Vorgehen des Geheimdienstes gemacht, der in rasender Eile sämtliche Kontaktpersonen Berlins, im Buch Rudolf Iwanowitsch Mayer genannt, der im Zug quer durch Russland gereist ist, identifiziert und isoliert hat. Die Menschen sind es gewohnt, in der Nacht verhaftet zu werden, sie gehen willig mit den maskierten Männern in den Schutzanzügen mit, doch ihre Reaktionen sind unterschiedlich. Einer verübt Selbstmord, bevor er abgeholt wird, eine Ehefrau verrät aus lauter Angst ihren Mann. Wenn der NKWD an die Türen klopft, dann meinen die Menschen schon zu wissen, wo sie landen werden. Die vermummten Männer geben keine Erklärungen ab. Den Begriff Seuche gibt es nicht, darf es nicht geben.
Der Terror besiegt den Tod.
Der Lübecker Totentanz, 1701. St. Marienkirche, Lübeck. Das Bild stammt aus einem Prospekt von 1842 mit der ausführlichen Beschreibung des Bildes. © wikipediaUlitzkaja hat die Geschichte korrigiert, das gute Ende, nur drei Menschen müssen sterben,  ist ihrer Fantasie entsprungen. Nach wenigen Tagen ist die Epidemie verhindert. Verhaftungen werden aus ganz anderen Gründen weiter geschehen. Als Chronistin reiht sie die einzelnen Szenen aneinander, ohne Pathos, Mitleid mit den Opfern, oder Abscheu vor der durch die Stadt marschierenden Truppe. Als Leserin läuft man mit den Ärzten, den ohne Erklärung Abgeholten und ihren Angehörigen um das eigene Leben.
Ljudimila Ulitzkaja hat vom tatsächlichen Geschehen durch die Tochter des Pathologen erfahren, der die Leichen der an der Pest gestorbenen Personen obduziert hat. In der UdSSR selbst war dieses Ereignis kaum bekannt. Ljudmila Ulitzkaja, die Grande Dame der russischen Literatur .© Hanser Verlag / hf_i

Vermutlich war dies das einzige Mal in der Geschichte dieser brutalen und rücksichtslosen Organisation, dass sie dem Wohl ihres Volkes diente und nicht seiner Einschüchterung und Vernichtung. Tatsächlich war es damals ausgerechnet der Geheimdienst, der seine einschlägige Erfahrung bei der Verhaftung und »Liquidierung« von Menschen nutzte, um binnen weniger Tage eine strenge Quarantäne zu organisieren, und so eine Epidemie verhinderte. So verblüffend es scheint: Die Sicherheitsorgane waren stärker als die Kräfte der Natur. Das bietet Stoff zum Nachdenken … (Gedanken der Autorin im Nachwort)

Ljudmila Ulitzkaja: „Eine Seuche in der Stadt". Szenario, aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Mit einem Nachwort der Autorin. Hanser 2021. 112 Seiten. € 16,70