Raphaela Edelbauer: „Dave“ Science-Fiction
Die Wiener Autorin Raphaela Edelbauer ist gerade mal 30 Jahre alt und schon mehrfach preisgekrönt. Nach dem „philosophisch-fantastischen“ (ORF) Roman „Das flüssige Land“, der auf allerlei Shortlisten genannt worden ist, widmet sie sich nun in dem „technisch-fantastischen“ Roman der Zukunft. „Dave“ ist der Titel der Science-Fiction und zugleich der Name einer hochentwickelten künstliche Intelligenz (KI), der kaum mehr etwas fehlt an Hirnschmalz, nur ein fühlendes Herz hat sie nicht.
Rechenleistung: große Klasse; Bewusstsein: nicht vorhanden. Freude, Liebe, Schmerz und Trauer kennt eine KI nicht. Dave ist, was die Hardware betrifft, ein unscheinbarer kleiner Kasten, sein Gehirn ist Software, gespeist von den ungezählten Scripts, die emsige Programmierer herstellen. Sie leben alle in einem riesigen Labor, das für sie und alle, die in der auf fünf Stockwerken gestapelten, streng organisierten Klassengesellschaft arbeiten, die Welt ist. Von Kind an wurde ihnen eingetrichtert, dass die Erde nach einer Katastrophe unbewohnbar sei und nur das Labor Sicherheit biete. Auch die Hauptperson, Syz, zugleich der Berichterstatter seiner Abenteuer, akzeptiert die dicken Wände und den täglichen Nahrungsbrei. Doch er sehnt sich danach, den Aufstieg zu schaffen, Dave näher zu kommen. Sein Name könnte an Anspielung auf Syzygy, ein spezielles Datenformat, sein.
Frauen kommen in seiner Erzählung kaum vor, sie müssen sich in den unteren Stockwerken aufhalten, weil sie zum Putzen und anderen schlecht bezahlten Arbeiten eingeteilt sind. Syz begegnet allerdings einer, Khatun, in die er sich quasi vor dem ersten Blick verliebt. Mehr als ein kurzer Blick ist ihm auch später nicht gegönnt, sein Glück ist immer wieder kaum gewonnen, so zerronnen. Khatun scheint eine Halluzination zu sein. Seine Gespräche mit ihr laufen ab wie sämtliche Dialoge, völlig disparat. Man kennt das ja von den Antworten eines Chatbot. Die Gesamtheit des Problems wird nicht erfasst, die Antworten beziehen sich auf einzelne Begriffe, auf die die KI programmiert ist. So wird auch Dave hergerichtet. Die Scripts, mit denen er gefüttert wird, sollen Texte für alle möglichen Situationen des Lebens zur Verfügung stellen.
Autorin Edelbauer füttert die Leserin mit allerhand Theorien und Namen von Computerfachleuten, Zukunftsforschern, Mathematikern, der Großteil ist bereits verstorben. Um den Roman durch und durch zu verstehen, müsste die nur marginal mit Algorithmen, Codes und den Theorien über künstliche Intelligenz vertraute Leserin parallel zur Lektüre Wikipedia zu Hilfe nehmen – gedruckte Lexika reichten da keineswegs aus, sie sind schon am Tag des Erscheinens überholt. Das gesamte Nerdwissen und Softwarekauderwelsch bremst jedoch auch den Fortgang des Romans, ist eher schwer verständlich als klar und wesentlich. „Was für eine unfassbare Scheiße“, denkt sogar der indoktrinierte Syz mitunter, wenn seine Freunde vor sich hin brabbeln.
Wie auch immer, Syz hat Glück und darf tatsächlich aufsteigen, den Schlafsaal verlassen und ein eigenes Zimmer mit Bad beziehen. Er bekommt nicht mehr geschmacklose Astronautenmahlzeiten aus der Kantine, sondern darf im Restaurant ganz normal ein Schnitzel bestellen. Er ist ausersehen, Dave ein Bewusstsein zu spenden. Die KI hat ja keine Geschichte, kein Erbgut, keine Erfahrungen und Erinnerungen, aus denen sich das menschliche Bewusstsein zusammensetzt. Der Mensch brauch Geschichten, fremde und eigene, das seine Erinnerungen, die sich auch verändern, zu Geschichten werden, sobald sie aufgerufen werden. Syz wird also in sich wiederholenden Sitzungen seine Erinnerungen mit Dave teilen. Die Themen werden von der Oberschicht, den Forschern, bestimmt. Syz findet das Angebot so verlockend, dass er gleich zusagt. Abzulehnen war ohnehin nicht vorgesehen.
Es dauert ziemlich lange, bis er erkennt, dass er mit seinen Erinnerungen, die in Daten umgewandelt werden, seine Persönlichkeit verkauft hat. Das Gefühl, mit Dave zu verschmelzen, macht ihm Angst. Innzwischen hat er auch von seinem Vorgänger, dem genialen Arthur Witteg, erfahren, der, nachdem er Dave seine Persönlichkeit geschenkt hat, vom Laborboden verschwunden ist. Mit Hilfe eines alten Mannes, Mandelbrot (sic) nennt er sich, geheimnisvollen Anweisungen in seinem Zimmer und vor der Tür und Freunden aus alten Tagen, erfährt er, dass es Möglichkeiten gibt, das Labor zu verlassen und in die Welt außerhalb zu gelangen. Syz kriecht durch Luftschächte und öffnet geheime Klappen und steht plötzlich unter blauem Himmel, spürt die Sonne auf der Haut. Er ist in der Wüste gelandet und wird von Halluzinationen, Luftspiegelungen und wirren Träumen begleitet. Lange währt dieser Ausflug nicht, er kehrt mit einem Plan zurück in seine gewohnte Welt, das Labor: Er wird Dave zerstören, ihm das Gedächtnis wieder wegnehmen. Die Flucht zurück ist abenteuerlich, Red Eccles, das Sicherheitssystem des Labors, hat die Häscher ausgesandt. Dennoch gelingt es ihm, nachdem sich Türen durch Zauberhand geöffnet und geschlossen haben, Magie Red Eccles ausgetrickst hat, das Zentrallabor zu erreichen und Dave gegenüber zu stehen. Syz erkennt sich inmitten all des Wirrwarrs aus Algorithmen und Codes, aus Spiegelungen und Avataren endlich selbst.
Die Lösung der Rätselfrage, worauf die Autorin denn hinauswill, könnte man gleich zu Beginn erkennen, doch da gleicht die Leserin dem berichtenden Syz: Erkenntnis ist ein langer Prozess. Ein Ausspruch von T. S. Eliot (1888–1965) legt die Spur. Sie wird am Ende, wenn wir wieder am Anfang sind, aufgefrischt.
We shall not cease from exploration. And the end of all our exploring will be to arrive where we started and know the place for the first time.
Wir werden nicht aufhören zu erforschen. Und das Ende all unserer Erkundungen wird darin bestehen, dort anzukommen, wo wir angefangen haben, und den Ort zum ersten Mal zu sehen.
Zugegeben, ich konnte nicht aufhören zu lesen, schließlich wollte ich, trotz aller eingeflochteten Bremsmanöver, wissen, wie es mit Dave weitergeht. Doch T.S. Eliots Feststellung belehrt mich eines Besseren, die KI Dave ist nur ein Transportmittel, es geht im Kern des Romans um die Konstruktion unserer Wirklichkeit, um das, was wir Realität nennen, um die Weltsicht.
Klarer mit den Möglichkeiten einer KI setzt sich Bijan Moini in seiner Dystopie „Der Würfel“ (Atrium) um. Auch Ian McEwan setzt sich in dem ebenfalls mit einem negativen Ende versehenen Roman „Maschinen wie ich“ (Diogenes) mit humanoider KI auseinander und ist damit sehr nahe an der Zukunft.
Schließlich habe ich noch eine Assoziation zu „Dave“ anzubieten: Chris Haring hat gemeinsam mit dem Multimediakünstler und Komponisten Klaus Obermaier „D. a. v. e.“ entwickelt. Das Solo, uraufgeführt im März 1999 in dietheater Künstlerhaus, ist mehr als ein künstlerisches Experiment. Der Tänzer verschmilzt mit seinem digitalen Ich, der reale Körper wird zum Teil des Videos. Die Performance D.a.v.e. (digital amplified video engine) wurde in 25 Ländern in Europa, Asien, Nord- und Südamerika und Australien von Kritiker*innen und Zuschauerinnen mit Lob überhäuft. Die Frage an „Dave“ ist letztlich, ist Syz der Erzähler im gleichnamigen Roman überhaupt ein realer Körper oder wie so vieles in diesem Roman nur eine Fiction von Dave oder ist es doch umgekehrt? Sie bleibt hier rhetorisch, weil jede Leserin, jeder Leser sie für sich selbst beantworten muss.
Raphaela Edelbauer: „Dave“, Klett-Cotta, 2021. 432 S. € 25,70. Auch als E-Book erhältlich.