„Girl“, Ballettfilm und Transgenderdrama
Laras Traum ist es, eine professionelle Ballerina zu werden, deshalb unterwirft sie sich auch der strengen und schmerzhaften Ausbildung an einer Ballettschule in Brüssel. Doch Lara hat noch einen viel größeren Traum, dessen Erfüllung ihr die Karriere als Ballerina erst ermöglicht: Geboren als Viktor, möchte sie aus ihrem Bubenkörper heraus. Sie weiß, dass sie eine Frau ist und will ihre innere Identität auch äußerlich sichtbar machen.
„Girl“, der erste Langfilm des belgischen Regisseurs Lukas Dhont, 27, ist heuer in Cannes mit der Camera d’or (bester Debütfilm) ausgezeichnet worden; In der Rolle der Lara wurde der 16jährige Victor Polster, ein Tanzeleve der Ecole royale de ballet d’Anvers, mit der Auszeichnung „Un certain Regard“ geadelt. Zurecht. Er trägt den Hauptanteil am Gelingen des Films. Leuchtendes Blondhaar, lange Beine, tadellose Kopf- und Armhaltung, ein Bild von einem Mädchen in der Adoleszenz, ein wenig groß vielleicht, mit kräftigem Knochenbau. Nur hie und da, wenn das Licht hart auf ihr Gesicht fällt und die kantige Kinnpartie im schmalen Gesicht sichtbar wird, kommen Zweifel auf. Polster spielt und tanzt mit Eleganz und Grazie, zeigt mit einem rätselhaften Lächeln auch die Einsamkeit des Mädchens im Bubenkörper. Dhont hat den jungen Tänzer aus gut 500 Bewerbern ausgewählt, schließlich musste der sich bereit erklären, auch den schmerzhaften Spitzentanz zu erlernen und zu zeigen. So mag das Blut an den Zehen von Lara durchaus das ihres Darstellers Victor Polster sein.
Dhont konzentriert sich auf die inneren Konflikte und Schmerzen der Heranwachsenden, wie sich die Kamera ganz auf Lara konzentriert. Die Elev*innen der Tanzklasse, Ballettmeister*innen, Therapeut und die Ärzteschaft bleiben Schemen am Rande. Lara bleibt verschlossen, obwohl sowohl der Vater sie liebevoll unterstützt wie auch ihre Umgebung Verständnis zeigt. Doch immer wieder wird sie auf ihr uneindeutiges Geschlecht zurückgeworfen. Da ist die Wut des kleinen Bruders, den sie auch betreut (eine Mutter kommt nicht vor), der sie als „Victor“ anbrüllt, oder die Neugier der Mädchen, die gemeinsam duschen und Lara endlich nackt sehen wollen. „Mit deinem Mut bist du ein Vorbild für viele andere“, sagt der Vater. „Ich will kein Vorbild sein, ich will ein Mädchen sein“, antwortet Lara trotzig und wartet sehnsüchtig, dass die Hormonbehandlung endlich anschlägt und ihr Brüste wachsen. Mit ihrem festen Entschluss, sich der schwierigen Operation zur Umwandlung der Genitalien zu unterziehen, endet der Film.
Abseits der nahezu euphorischen professionellen Kritik hat sich natürlich auch die transgender Lobby gemeldet und an „Girl“ allerhand auszusetzen gehabt, vor allem die Tatsache, dass ein Junge für die Rolle der Lara ausgewählt worden ist und keine transgender Person. Dabei schießen die Betroffene vertretenden Kritiker*innen am Ziel Dhonts vorbei, er wollte einen Spielfilm mit Darsteller*innen machen und keine Dokumentation. Dhont ist zwar von einer Magazingeschichte über eine Tänzerin, die ihr Geschlecht wechseln wollte inspiriert worden, und wolle ursprünglich auch einen Dokumentarfilm drehen, doch Nora, die betroffene Tänzerin, hat sich geweigert, stand jedoch für den Spielfilm als Beraterin zur Verfügung. Dhont erzählt also nicht die Geschichte von Nora, sondern die von Lara, quasi eine doppelte Geschichte. Die eine handelt vom Erwachsenwerden und der Identitätsfindung, die für junge Menschen oft schmerzhaften Begleiterscheinungen der Pubertät; die andere ist die von der speziellen Unordnung, die Lara durchlebt, da ihre innere Identität (wie Gehirnforscher festgestellt haben, wird diese im Gehirn gebildet und steht bereits bei der Geburt fest, Gene und Hormone sind an der Identitätsbildung nicht beteiligt) nicht mit der dem äußeren Anschein übereinstimmt. Zugleich wollte er auch einen Tanzfilm drehen und beides ist ihm bestens gelungen. Wenn Lara inmitten einer Menge zu sehen ist, etwa auf der Straße oder in der U-Bahn, dann blitzen auch kurz gesellschaftspolitisch relevante Gedanken auf: Wie viele Menschen sind hier in einer ähnlichen Lage wie Lara?
Viktor Dhont hat mit „Girl“ einen Film über die Probleme Laras und, ob absichtlich oder nicht, auch über die anderer transgender Personen gedreht, der auch Tanzaffine begeistern kann, so genau kann man die fast militärische Ausbildung zur Tänzerin / zum Tänzer selten beobachten. Regisseur Dhont psychologisiert nicht, erklärt nicht, zeigt Lara, meist ist sie stumm und abweisend, lediglich mit diesem Mona-Lisa-Lächeln, was sie fühlt und denkt, kann an ihren Reaktionen abgelesen oder auch nur vermutet werden. Ebenso distanziert und kühl arbeitet auch Kameramann Frank van den Eeden, niemals übertritt er die Grenzen, filmt Lara respektvoll, ohne ihre Intimität zu verletzen. Victor Polster hat mit seiner ersten Rolle als Darsteller eine zweite Karriere vor sich: Falls er als Ballerino nicht ganz nach oben tanzt, wird er als Schauspieler reüssieren. Lukas Dhont hat übrigens eine besondere Affinität für den Tanz. Er arbeitet regelmäßig mit dem Choreografen und Tänzer Jan Martens zusammen, mit dem er das Langzeitprojekt „The Common People" entwickelt und in mehreren Städten, auch in Wien (Wiener Feswochen 2015) verwirklicht hat.
Mit "Girl" zeigt er einen Tanzfilm, einen Problemfilm und auch einen ernsthaften und ambitionierten Unterhaltungsfilm.
Lukas Dhont: „Girl“, Drehbuch: Dhont, Angelo Tijssens; Kamera: Frank van den Eeden. Mit Victor Polster; Arieh Worthalter als Vater, Oliver Bodart als kleiner Bruder Milo und vielen anderen. Verleih Thimfilm. Ab 4. Jänner 2019 im Kino.