Justine Triet: „Sibyl – Therapie zwecklos“, Farce
Die Regisseurin dreht durch und hechtet vom Schiff ins Tyrrhenische Meer, schwimmt zurück zum Vulkan Stromboli, wo die Filmcrew stationiert ist. Doch es ist nicht Justine Triet, die Regisseurin des Films „Sibyl“, die durchs Meer pflügt, sondern Mika, die im Film im Film Regie führt und so schwache Nerven hat wie die Hauptdarstellerin, die mit ihrer Therapeutin angereist ist, doch auch die hat einen Nervenzusammenbruch und reist ab. Ist‘s eine Komödie oder eine Tragödie? Eine Farce oder ein Drama? Eine eindeutige Antwort fällt schwer.
Es scheint, als hätte Triet selbst nicht genau gewusst, was sie erzählen will. Im Vordergrund stehen drei Frauen mit schwachen Nerven, die ihre Beziehungen zu wichtig nehmen. Was die Therapeutin Sibyl, eine trockene Alkoholikerin, betrifft, so muss sie sich auch damit herumschlagen, dass sie sämtliche Ethikregeln ihres Berufs missachtet. Sie missbraucht ihre Klient*innen als Lieferant*innen des Stoffs für den Roman, den sie schreiben will. Eigentlich wollte sie sich nur noch dem Schreiben widmen und hat die meisten Klienten einfach in die Wüste geschickt. Doch dann ruft die junge Schauspielerin Margot an, die vor den Dreharbeiten eines Films zittert. Sie erwartet vom Hauptdarsteller ein Kind und weiß nicht, ob sie es behalten oder abtreiben soll. Sibyl nimmt ihr die Entscheidung ab und kippt zugleich zurück in ihre eigene Vergangenheit. Sie hat vor neun Jahren ihre Tochter ausgetragen, die Liebe zu Gabriel ist zerbrochen. Jetzt weiß sie nicht mehr, ob das richtig war. Margot hat also eine Liaison mit dem Hauptdarsteller Igor. Der ist aber der Freund der Regisseurin Mika. Das Chaos scheint vorprogrammiert, zumal Margot behauptet, nicht arbeiten zu können, wenn Sibyl nicht an ihrer Seite ist.
Die gute Seele, die ja gelernt hat, anderen zu helfen, reist ebenfalls nach Italien, rettet die Liebesszene, indem sie für die baden gegangene Mika einspringt und vervollständigt das Dreieck zum Quadrat, bekommt einen Heulkrampf und reist ab, nicht ohne sich fantasierend wieder in die Vergangenheit mit Gabriel zurück zu beamen. So switcht der Film zwischen der aktuellen Handlung, der Handlung im zu drehenden Film und Sibyls Flashbacks und Fantasien hin und her und erzählt von drei Frauen, die weniger am Rande eines Nervenzusammenbruchs sind, sondern mitten drin. Sehenswert machen ihn die drei Darstellerinnen, die Männer (Igor, der Mehrfach-Liebhaber und Hauptdarsteller in Mikas Film, Gabriel, der Exliebhaber von Sibyl und Etienne, der aktuelle Freund mit dem sie auch ein Kind hat) sind Auslöser für das Kreischen, Heulen und das Gefühlschaos, doch sonst nicht besonders wichtig, Gaspard Ulliel, Niels Schneider und Paul Hamy verkörpern sie mit Anstand. Im Zentrum stehen drei großartige Darstellerinnen: Virginie Efira als Sibyl, Adèle Exarchopoulos als Margot und Sandra Hüller als Mika. Die hysterischen Ausbrüche der drei sind reinster Genuss, auch wenn Triet die hysterischen Frauen alle Register ziehen lässt.
Die Themen, Abtreibung und Kindeswohl, das Jonglieren zwischen Berufsleben und Familie, zwischen Realität und Fiktion, sind wahllos Szene für Szene übereinandergeschichtet, einen roten Faden gibt es nicht, Ernsthaftigkeit kommt nicht auf. Am Ende tobt sich Sibyl in einer Disco aus und säuft sich nieder. Etienne versperrt ihr die Tür, eine besoffene Mutter will er den Kindern nicht zumuten. Der Schluss ist eine Therapiesitzung bei den Anonymen Alkoholiker*innen.
Ob Sibyl endlich weiß, was sie wirklich will und ob der Roman je fertig wird, bleibt offen. Ob der Film „Sibyl“, wie er im französischen Original heißt, durch den Zusatz „Therapie zwecklos“ besser verständlich wird, wage ich zu bezweifeln. Ist egal, man kann ihn als Farce nehmen und sich übr die Frauen, die ihre Balance nicht finden, amüsieren.
Doch muss unbedingt auf Stromboli gedreht werden, diesem daueraktiven Vulkan, den 1949 schon Roberto Rossellini für einen Film mit Ingrid Bergman gewählt hat. Die anstrengenden Dreharbeiten (samt starkem Vulkanausbruch) waren der Beginn der Beziehung wischen Bergman und Rossellini, als sie ein Kind erwartete, verließ sie ihren Mann, mit dem sie mehr als zehn Jahre verheiratet war und eine Tochter hatte. Der Vulkanausbruch ist eine Metapher für die Wende im Leben der Protagonistin und tatsächlich auch im Leben der Darstellerin und des Regisseurs. In Triets Film brechen nur die Frauen aus, vom Vulkan sieht man nicht gar so viel, aber er ist da. Bedrohlich.
„Sibyl – Therapie zwecklos“ Originaltitel: „Sibyl“. Regie, Drehbuch: Justine Triet, Drehbuchmitarbeit: Arthur Harari. Kamera Simon Beaufils. Mit Virginie Efira (Sibyl), Adèle Exarchopoulos (Margot), Sandra Hüller (Mika), Gaspard Ulliel, Niels Schneider, Paul Hamy und anderen. Verleih: Filmladen.
Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, 110 Minuten Unterhaltung sind endlich gesichert: Kinostart ist 24. Juli 2020.