Richard Gerstl im Leopold Museum
Nur sechs Jahre lang hat Richard Gerstl (1883–1908) gemalt und hat, wie sein Kollege Vincent van Gogh (1853–1890) kein einziges Bild verkauft. Einen Glorienschein erhält Gerstl natürlich durch seinen frühen Tod durch Selbstmord. Gerade 25 Jahre war der Jüngling alt, als er seine letzten Selbstporträts gemalt und aus unglücklicher Liebe den Freitod gewählt hat. Im Leopold Museum wird die monografische Schau mit Bildern van Goghs, Edvard Munchs, Francis Bacons und anderen kombiniert, um den Untertitel „Inspiration – Vermächtnis“ zu rechtfertigen.
Für die Kunsthistorikerin / den Kunsthistoriker liegt es weniger an der tragischen Biografie und dem frühen selbst verursachten Tod des Malers, der aus unglücklicher Liebe zur Frau des Komponisten Arnold Schönberg Mathilde und der daraus folgenden gesellschaftlichen Ausgrenzung aus dem Leben geschieden ist, sondern vor allem an der Tatsache, dass Gerstl in keine Schublade passt, sich jedem Stil verweigerte und damit einzigartig ist.
Beruhigend und entspannend sind die Landschaftsbilder, doch festgehalten wird die Besucherin von den Porträts, den vielen eigenen, in denen Gerstl sich selbst stilisiert, grauenvoll grinsend, mit schlechten Zähnen, wie Christus im strahlenden Licht, ab dem Nabel mit einem weißen Leintuch verhüllt, oder das, laut seinem Bruder Alois, letzte Bild, ein Selbstbildnis als Akt, ein ernster Jüngling mit Lockenhaar und erschütternd blasser Haut, vor fast unheimlich blauem Hintergrund, scheinbar in rasender Eile hingepinselt. Und auch die Porträts von Mathilde, der Geliebten, der Familie Schönberg und anderer Männer und Frauen aus dem Freundeskreis aus dem bürgerlich-künstlerischem Kreis in Wien, die die Betrachterin nicht mehr loslassen.
Aus einer wohlhabenden bürgerlichen Familie stammend, hat er sich nicht nur für die Malerei interessiert, sondern auch für Philosophie und Musik. Als unangepasst und eigenwillig, ist er bereits im Piaristengymnasium aufgefallen. Später hat er Arnold Schönberg Malunterricht erteilt und hat sich in dessen Frau Mathilde verliebt. Sie hat die Leidenschaft erwidert, bis der Ehemann das Verhältnis der beiden entdeckte. Die Freundschaft mit der Familie Schönberg ist zerbrochen, der junge Gerstl wurde geächtet und war völlig isoliert, seine Bilder wollte er ohnehin nie in Ausstellungen sehen, zahlreiche Gemälde hat er vor seinem Tod – eine Inszenierung vor dem Spiegel – verbrannt. So wurde er erst 1931 durch den Galeristen Otto Kallir-Nirenstein zum ersten Mal präsentiert, doch die wahre Bedeutung seines Œuvres ist erst nach dem 2. Weltkrieg erkannt worden. Der Kunstsammler Rudolf Leopold (mit seiner Frau Elisabeth und dem Österreichischen Staat Gründer der Leopold Museum-Privatstiftung; das Museum im Museumsquartier wurde auf Staatskosten gebaut) hat rechtzeitig zugegriffen. Doch auch aus dem Belvedere sind Leihgaben in der Ausstellung zu sehen, etwa das 1907 entstandene hochformatige Porträt von Mathilde Schönberg oder das „Selbstbildnis, lachend“ von 1908 und „Die Schwestern Karoline und Pauline Fey“, die 1905 für Gerstl stillgehalten haben.
Die Bezüge, die von den Kuratoren Hans-Peter Wipplinger und Diethard Leopold durch Werke der klassischen Moderne hergestellt werden, sind nicht immer nachzuvollziehen. Mitunter scheint mir, als wären es nur die verwendeten Farben oder die Maltechnik, die einen Arnulf Rainer oder einen Eugène Leroy mit Gerstl verbinden. Fakten sind es, die Richard Gerstl mit Vincent van Gogh verbrüdern. Wie der Niederländer, hat der Wiener zu Lebzeiten nichts verkauft und ist kurz vor seinem Tod in einen wahren Schaffensrausch verfallen. Obwohl Gerstl in seiner Depression viele Bilder verbrannt hat, ist ein Œuvre von rund 70 Werken gesichert, das Leopold Museum besitzt, ergänzt durch Dauerleihgaben, 19 Werke; zu sehen sind in der aktuellen Ausstellung rund 50 Gemälde und Zeichnungen.
Am eindrucksvollsten ist die Verwandtschaft mit Gerstl in den emotionalen Bildern der Grande Dame der österreichischen Malerei, Martha Jungwirth, zu spüren. Auch sie lässt sich in kein Schema pressen, verfolgt ihren eigenen kraftvollen Stil und darf sich erst seit kurzem über späten Ruhm in ihrer Heimat freuen. 2014 zeigte Hans-Peter Wipplinger, heute Direktor des Leopold Museums, in der Kunsthalle Krems eine umfassende Jungwirth-Retrospektive. Im Vorjahr hat ihr die Albertina eine Einzelausstellung gewidmet. Für die Opernsaison 2019/20 hat sie das dem alten „Eisernen“ vorgehängte Werk geliefert: „Das trojanische Pferd“. Die bald 80jährige Künstlerin ist zum Star geworden: „Jetzt verdiene ich was“ sagte sie nach der Kremser Ausstellung. Sie verdient, was sie verdient. Ihr Vorbild ist nicht erst seit heute Richard Gerstl. Ihm hat sie einen eigenen Zyklus gewidmet: „Richard Gerstl, Bildnis der Schwestern Fey“, 2015. Offenbar eine lebendige Beziehung hat auch Georg Baselitz zu Gerstl. Wie nicht anders zu erwarten, stellt er ihn in der Papierarbeit „Gerstl“ von 2018 auf den Kopf.
„Richard Gerstl. Inspiration – Vermächtnis“, ergänzt durch Werke von Zeitgenossen und Nachgeborenen. Kuratoren: Hans-Peter Wipplinger, Diethard Leopold. In Kooperation mit dem Kunsthaus Zug. Bis 20.1. 2020, Museum Leopold / Museumsquartier; täglich außer Dienstag 10–18 Uhr, Donnerstag bis 21 Uhr.
Katalog, herausgegeben von Hans-Peter Wipplinger, Matthias Haldemann. 288 S., ca. 300 Abb. Deutsch / Englisch, Verlag der Buchhandlung Walther König. € 34,90.