ImPulsTanz – Christine Gaigg & netzzeit
untitled [look, look, come closer]“ nennt die Choreografin Christine Gaigg ihren „Bühnenessay“, in dem sie im 21er Haus den Nachrichten, Reports und der Propaganda über Krieg und Terror in den (sozialen) Medien einen analogen Blick entgegensetzt. Mit minimalen Mitteln provoziert die Aufführung, verknüpft mit der Musik von Klaus Schedl (netzzeit), statt Voyeurismus und Zerstreuung echte Emotionen, Angst und Schrecken.
Eine Frau zielt mit der Kalaschnikow auf mich, die Bodentruppen stellen sich in Formation, die Panzer rollen, der Mörder schlitzt die Kehle auf, reihenweise werden Menschen geköpft, die Düsenjäger pfeifen über meinem Kopf, die Flüchtenden werden zusammengeschaufelt und dann werfen die Bomber ihre Last ab. Ich denke an den Keller unter dem 21er Haus.
Alles nur in meinem Kopf. In der Halle des 21er Hauses arbeiten fünf Performer_innen mit großem Ernst und steinerner Miene an fünf Leuchttischen, hantieren mit Schere und Stift, mit Trockeneis und Badezimmeraccessoires und spielen dennoch nicht. Sie führen Krieg, wandern von Tisch zu Tisch lassen die rundherum Sitzenden dabei sein.
Noch scheint alles harmlos. An meinem Tisch hantiert die Schauspielerin Juliane Werner mit ihrem fein sortierten Mini-Labor. Trockeneis ist die Materie, erinnert mich an die Physikstunde. Noch bin ich entspannt. Die Musik schwillt an, die Situation wird gefährlich, schön sieht aus, was Werner an Blasen und Bergen, über die winzige Papierschiffchen fahren, entstehen lässt. Dann explodieren die Klänge und die Pilzwolke steigt empor. Schaudern statt Entspannung. Es ist Krieg. Marta Navaridas im schwarzen Kapuzensweater ist eine eiskalte Terroristen, die die Gräueltaten malt und an Galgen die Spraydosen stecken aufhängt. Alexander Deutinger bringt seine Trockenrasierer in Formation, stellt die Zelte für die Flüchtlinge auf, lässt die Panzer auffahren und kehrt am Ende alles wieder in den Werkzeugkasten, auf zur nächsten Publikumsgruppe.
Dazwischen spricht Gaigg mit klarer Stimme einen kurzen Text von Wolfgang Reiter. Ich höre nur Wortfetzen: „Erhabenheit, Dunkelheit, Kraft, Stärke, Paradise, Horror.“ Robert Steijn, als gemütlich aussehender, bärtiger Handwerker, formt aus Ton einen einen Penis, der zum Mann mit Gewehr wird – Rübe ab und mit einem Handgriff wird er als undefinierbare Kugel in den Orkus befördert. Schließlich erscheint der letzte Performer am Tisch – Frans Poelstra als Chirurg, erinnert irgendwie an Phantom Blofild, den Widersacher von 007. Auch die Köpfe seiner herzige rosa Männchenkette, penibel ausgeschnitten, fallen dem (Stanley-)Messer zum Opfer, die Herzen werden durchstochen. Alle Mann tot. Sieg! Sieg?
Nicht allein die Performer_innen, die schweigend auftauchen, ihre Geräte / Waffen auspacken, konzentriert und cool ihre Arbeit erledigen, wühlen auf, wirken bedrohlich. Noch mehr weckt natürlich die Musik die wie live gespielt das Szenario auf dem Tisch untermalt, begleitet, verstärkt, das emotionale Spektrum der Angst und des Grauens.
Mit dieser kompakten, intensiven und stringenten Performance ist Christine Gaigg / 2nd nature ist gelungen, was keiner Reportage, keinem Bild und schon gar keinem Film bisher gelungen ist: Über Terror und Krieg, Angst und Schrecken zu berichten, ohne den angenehmen Schauer der Unterhaltung hervorzurufen
Christine Gaigg / 2nd nature & netzzeit / Klaus Schedl: „untitled [look, lokk, come closer], gesehen am 15.8. im 21er Haus im Rahmen von ImPulsTanz 2015.