Xavier Le Roy: „Le sacre du printemps (2018)“
Ein Publikum, das zum Orchester wird durch ein getanztes Dirigat. So ließe sich die Performance „Le sacre du printemps (2018)“ des promovierten Molekular-Biologen und seit 1991 als Künstler tätigen Franzosen Xavier Le Roy betiteln, die, in der Originalfassung für einen Tänzer bereits 2007 am Tanzquartier Wien uraufgeführt, 2016 in einer Neufassung für vier TänzerInnen bei der Biennale Danza in Venedig Premiere gefeiert hat. Die (in dieser ImPulsTanz-Performance) drei PerformerInnen tanzen hier in Auszügen das akribisch analysierte Dirigat von Sir Simon Rattle bei einer 2004 erfolgten Aufnahme des 1913 von Igor Stravinsky komponierten Orchesterwerkes „Le sacre du printemps“ auf eine Weise, die diese komplexe Komposition wesentlich klarer und intensiver erleben lässt.
Die zwei Seiten einer Medaille: 2016, drei Monate vor der geplanten Aufführung des für ihn selbst entwickelten Stückes bei der Biennale Danza in Venedig, brach sich Xavier Le Roy den Knöchel. Marie Chouinard, die damalige Leiterin der Biennale, schlug vor, die Choreografie für einen anderen Performer umzuarbeiten. Wegen der Zeitknappheit erlernten jedoch vier TänzerInnen (Eleonor Bauer tanzte in Wien nicht) jeweils Teile der Choreografie. Daraus entstand eine Neu-Interpretation, die durch die Vervielfältigung der dargestellten Dirigenten-Persönlichkeit deutlich facettenreicher wirkt. Den drei bei ImPulsTanz performenden TänzerInnen Alexandre Achour, Salka Ardal Rosengren und Scarlet Yu gelingt es, nicht nur die Musik transparenter zu machen.
Durch den Einsatz wirklich aller möglichen Varianten ihres Arbeitens auf der Bühne (anfangs allein mit dem Rücken zum Publikum, dann frontal allein, zu zweit oder zu dritt, tanzend-dirigierend ohne Musik, Musik ohne „Tanz-Dirigat“) erlebt das Publikum, das mitten in der seitlich abgestrahlten Musik sitzt und durch die TänzerInnen wie ein Orchester durch dessen Dirigenten angesprochen wird, diese Musik auf neue, bislang „unerhörte“ Weise. Es ist beeindruckend, wie die Musik zum Beispiel beim „stillen Dirigat“ im Geiste weiter klingt. Die drei TänzerInnen kennen die musikalischen Strukturen der Partitur bis ins Feinste und dirigieren so das Orchester/Publikum inklusive mimischer Nuancen. Konzentration, Anstrengung und Freude im Gesicht und auch ein kurz erhobener Daumen lassen die dem Auditorium normaler Weise eher verborgene Arbeit des Dirigenten erlebbar werden. Das eingesetzte Bewegungs-Vokabular reicht vom geschmeidigen Einsatz der Hände und Arme bis zum den ganzen Körper erfassenden Enthusiasmus. Hier wird Wirkung zu Ursache, wird die Orchester-Musik zum Dirigenten-Tanz.
Die Bühne übrigens ist vollkommen leer, das Licht beleuchtet auch das Publikum hell, was den direkten, intensiven Kontakt zwischen den TänzerInnen und dem Publikum erheblich fördert.
Stravinskys „Le sacre du printemps“ wurde bereits in mehr als 40 höchst unterschiedlichen Varianten zu Balletten, Tanz-Stücken und Performances verarbeitet, die mit der Musik erzählte Geschichte direkt darstellend, sie übertragend in andere Kontexte, sie verfremdend oder brechend.
Das Charakteristische an dieser hier gezeigten „Sacre“-Arbeit ist ihre direkte Annäherung an die Musik und ihre Strukturen, ohne die Geschichte des „Frühlingsopfers“ zu berühren. Diese Fokussierung der Aufmerksamkeit des Publikums auf das Timbre einzelner Instrumente, auf die exakten Einsätze der jeweiligen Stimmen, auf Crescendo und Decrescendo, auf pianissimo bis fortissimo und letztlich auf den klanglichen Gesamteindruck eines spielenden Orchesters macht diese Performance zu einem einzigartigen und Hoch-Genuss.
Xavier Le Roy: „Le sacre du printemps (2018)“; Konzept: Xavier Le Roy; Performance: Alexandre Achour, Salka Ardal Rosengren, Scarlet Yu; Musik: Igor Stravinsky; Aufnahme: Berliner Philharmoniker, dirigiert von Sir Simon Rattle; Sounddesign: Peter Boehm; 12. August 2018; MuseumsQuartier Halle G; im Rahmen von ImPulsTanz 2018.