Ballett: "Giselle" mit Gästen aus Moskau
Olga Smirnova und Semyon Chudin haben sich bereits mit ihrem Gastauftritt in „Schwanensee“ 2017 in die Herzen der Zuschauer getanzt. Für die letzte Aufführung in dieser Saison von Elena Tschernischovas Choreografie des romantischen Balletts „Giselle“ kam das Paar wieder nach Wien und begeisterte von neuem; Chudin als Herzog Albrecht, Smirnova vor allem als aus dem Grab steigende Willi. Mit Jubelschreien und Bravogebrumm bedankten sich Ballettfreundinnen bei den beiden Principal Dancers des Bolschoi Balletts.
Gäste sind immer willkommen, beim Publikum sowieso, denn es schätzt den Propheten, der aus der Ferne kommt mehr als den im eigenen Haus. Grundlos, möchte ich behaupten. Aber auch die Compagnie hat ihe Freude an den Gästen. Sie spornen zu Höchstleistungen an und zeigen, wie anderswo getanzt wird. So war das Hausdebüt von Smirnova und Chudin in „Giselle“ ein Gewinn für alle.
Olga Smirnova ist allein durch ihre Erscheinung eine wunderbare Ballerina: Lange Beine, bewegliche Arme, drehfreudiges Rückgrat, langer Hals und große dunkle Augen im schmalen Gesicht. Sie ist sicher auf der Spitze, hält in jeder Lage ihre Balance, ihre Arabesques sind betörend, wenn auch mitunter etwas überdehnt. Genussvoll schmiegt sie sich im zweiten Akt als Willi in die Musik, lässt den Dirigenten Paul Connelly Adolphe Adams Melodien der Pas de deux und Solovariationen in nahezu unerträglich langem Sostenuto halten. Als Willi ist Smirnova nicht mehr von dieser Welt, ein Geistwesen, das der umherirrende Albrecht kaum fassen kann. Erst wenn sie zum letzten Solo ansetzt, um die Königin zu überzeugen, dass Albrecht nicht sterben darf, zeigt sie mit wirbelnden Beinen Temperament.
Im ersten Akt, als Bauernmädchen, wirkt sie jugendlich und liebreizend – sie ist auch erst 27 Jahre –, doch lässt sie es an Ausdruck und Wärme vermissen. Sie ist eine perfekte Tänzerin, doch kein verliebtes Mädchen. Dem entsprechend tobt sie auch nicht, als ihr klar wird, dass sie von Albrecht betrogen worden ist, sondern gleitet sanft mit verschleiertem Blick ins Nirwana. Man ahnt schon, diese Giselle wird ganz sicher keine rächende, rasende Willi, sondern bleibt ein schwebender Geist mit unterkühlten Gefühlen.
Wie Smirnova mit den Arabesques das Publikum den Atem anhalten lässt, so verführt Chudin es zu frenetischen Beifall mit seinen Entrechats. Angeblich konnte Vaslav Nijinsjkij ein „entrechat douze“ (zwölf Kreuzungen in der Luft) zeigen, Chudin schlägt ihn ganz sicher um vieles, so schnell, dass das Kreuzen der Beine im Sprung nicht mehr zu zählen ist. Und weils so schön war, setzt er noch ein paar Luftsprünge drauf. Der groß gewachsene Tänzer, ein energiegeladener Danceur noble, weiß sein Publikum zu begeistern. Seit 2011 tanzt er im Boschoi-Ballett als Principal Dancer. Seine Karriere startete er nach seinem Studium in Nowosibirsk 2003 als Solotänzer bei der Universal Ballet Company in Seoul. Schon dort hat er in der Paraderolle des Albrecht brilliert. So erfahren und sicher er technisch ist, kann er sich getrost auf sein Spiel verlassen und legt den Albrecht als hochnäsigen Herzog an, der sich um das Innenleben des verführten Mädchens nicht schert und später weniger bereut als Angst vor dem drohenden Tod hat. Dass er verschont wird und Giselle wieder in ihr Grab steigen muss, gefällt mir gar nicht. Es gibt ja Versionen des Balletts, in denen Albrecht am Grab Giselles zusammenbricht und erst, nachdem der Vorhang gefallen ist, wieder aufsteht. In Tschernischovas Choreografie von 1993 holt er sich den Mantel und eilt an den Herd zu Bathilde.
Dass das Wiener Staatsballett mit den illustren Gästen durchaus mithalten kann, zeigte das Corps de Ballet und die Halbsolist*innen (fröhlich springende Winzerinnen, Bauernmädchen und -burschen, synchron gleitende Willis) sowie Eno Peçi als unschuldig zu Tode getanzter Hilarion und auch das Bauernpaar mit Solotänzerin Natascha Mair und dem Corps-Tänzer Scott McKenzie. Kiyoka Hashimoto als Mytha, Königin der Willis, hat mit der Nervosität des Debüts auch die Steifheit abgelegt und ist ganz federnde Leichtigkeit.
Nachdem das Publikum sich ausgetobt hat, wenden sich Smirnova und Chudin dem Ensemble zu und bedanken sich bei diesem für ihren gelungenen Auftritt. Eine schöne Geste, die das harmonische Paar noch sympathischer macht.
„Giselle“, Phantastisches Ballett in Zwei Akten von Théophile Gautier, Jules-Henri Vernoy de Saint-Georges und Jean Coralli nach Heinrich Heine. Choreografie: Elena Tschernischova nach Jean Coralli, Jules Perrot, Marius Petipa. Musik: Adolphe Adam; Dirigent Paul Connelly. Mit Olga Smirnova und Semyon Chudin, Principal Dancers im Bolschoi Ballett. 75. Aufführung dieser Inszenierung am 6. Juni 2018. Wiener Staatsballett in der Staatsoper.
Fotos von Ashley Taylor, © Wiener Staatsballett / Ashley Taylor.