Zum Hauptinhalt springen

Akram Khan: „Xenos“, Festspielhaus St. Pölten

Akram Khan: Erst wenn der Löwe erzählt …

Mit seiner im Februar 2018 in Athen uraufgeführten Solo-Performance „Xenos“ verabschiedet sich Akram Khan als Solotänzer von seinem Publikum. In dieser Arbeit rückt der Brite mit Wurzeln in Bangladesch das Schicksal der über eine Million kolonialisierten Inder, die für „ihre britische Krone“ in den 1. Weltkrieg geschickt worden sind, in den Mittelpunkt. Ein früheres Stück nannte er „Until the Lion“ und erinnert damit an ein indisches Sprichtwort: „Until the lion tells the story, the hunter is the hero! / Bis der Löwe die Geschichte erzählt, ist der Jäger der Held!“, In „Xenos“ (griechisch: "der Fremde"), dem im Festspielhaus St. Pölten getanzten Solo, ist Akram Khan der Löwe; er schreibt die Geschichte um und nimmt die Perspektive der Gejagten ein.

Akram Khan, Soloperformance über den Krieg: "Xenos"Drei Jahre hat der Tänzer und Choreograf an diesem Stück gearbeitet und vor allem umfangreiche Recherchen zur britischen Gewaltherrschaft in Indien und zum 1. Weltkrieg getätigt.

Wenn die Zuschauer den großen Saal des Festspielhauses betreten, musizieren bereits zwei Inder (Gesang und Percussion, diese auch oral erzeugt) auf der von Mirella Weingarten gestalteten, rötlich warm beleuchteten Bühne in indischem Ambiente mit fünf Stühlen, Sitzkissen, Teppich und einer herabhängenden Schaukel. Dahinter eine bühnenbreite, gewölbt ansteigende Rampe mit ausgelegten Seilen, die bis an die Objekte im Vordergrund führen.
Akram Khan stürzt auf die Bühne, die Saalbeleuchtung erlischt. Akram Khan in "Xenos": Aus dem Desaster wächst das neue Leben

Aus klassischem indischem Kathak und zeitgenössischem Tanz entwickelt Khan eine Bewegungssprache, die einen indischen, traditionell und mit schellenbesetzten Schnüren um die Knöchel gekleideten Tänzer präsentiert, der, zum Krieger gemacht, von sich selbst, den Mitmenschen und der Welt entfremdet wird. Einbrechende akustische Bedrohlichkeit, den nahenden Kriegseinsatz ankündigend, die abgewickelten Schellenschnüre mit den Händen haltend, so zu klingenden Ketten geworden, und die Seile, die die Objekte des Vordergrundes langsam über die Rampe in die Unsichtbarkeit ziehen, lassen die kommende massive Entwurzelung fühlen. Ein oben auf der Rampe sehnsuchtsvolle indische Musik spielendes Grammophon wird zu Scheinwerfer und Geschütz. Der Tänzer duckt sich vor Gewehrsalven.

"Xenos" –  "Das ist kein Krieg. Das ist das Ende der Welt."Erde rieselt von oben auf die Rampe, die so zum Schützengraben wird,  in den an Seilen und mit ausgebreiteten Armen, geradezu gekreuzigt, der nun in eine erdfarbene Uniform gekleideter Tänzer herabgelassen wird. Verzweifelt versucht er vergeblich, wieder nach oben zu klettern. Exotische Musik, unterbrochen und überlagert von elektronischem Geschützfeuer. Der Tänzer wühlt in der Erde, auf der er nun kämpfen muss.

Das karge, düstere Licht und eine Kette von unterschiedlich hoch hängenden Glühbirnen, blinkend und blitzend wie Sterne, oder wie Mündungsfeuer, verstärken die so deutlich spürbare Atmosphäre: Hoffnungslosigkeit, Trostlosigkeit, Sinnlosigkeit. Der Tänzer Akram Khan zu Gast im Festspielhaus St. Pölten

Der Text, nüchtern und leise vorgetragen, ist ein Auszug aus dem Brief eines indischen Soldaten: „Do not think, that this is war! This is not war! This is the ending of the world!“ („Glaube nicht, das sei Krieg. Das ist kein Krieg. Das ist das Ende der Welt!“). Später werden Namen gefallener Inder vorgelesen. 

Beeindruckend ist auch die kammermusikalisch-elektronische Umsetzung der von Vincenzo Lamagna komponierten und arrangierten Musik. Mit Auszügen aus Mozarts „Requiem“ sowie indischen und westlichen Traditionals erzeugen fünf Musiker (Gesang, Percussion, Geige, Kontrabass, Saxophon), Akram Khan: "Xenos", sein letztes Solo. die immer wieder, oben hinter der Rampe stehend, durch einen hochgezogenen Kasch und schwach beleuchtet, sichtbar gemacht werden, eine Klangkulisse, die durch Maschinengewehrfeuer, Kanonendonner, Hundegebell, Flöten oder Störgeräusche ein Spektrum von friedlicher Ruhe über latente und manifeste Gefährdung bis zur drohenden Zerstörung der Welt fühlbar macht. Großartig!

Am Ende rollen von oben erst einzelne, dann sehr viele Kiefern-Zapfen die Rampe herunter; einen letzten lässt der Tänzer selbst fallen. Ein starkes Symbol für die ungezählten indischen Gefallenen, zugleich aber auch Samen der „Hoffnung, dass wir gemeinsam unseren Weg nach Hause finden mögen“ (Ruth Little, Dramaturgie).

"Xenos", Tanzsolo. Die Live Musik schafft AtmosphäreWir sahen einen Künstler auf der Höhe seines Könnens, tanzend mit größter Präzision und ohne jede Unsicherheit oder Schwäche, mit einem Stück, das aus tiefstem Humanismus heraus und in völker- und zeitenverbindendem Geist entstanden ist.
Nicht nur ein optischer und akustischer Hochgenuss, sondern ernüchternd, erschütternd und trotzdem in aufrechter Hoffnung. Hochaktuell!
Schwer vorzustellen, dass wir Akram Khan so nicht mehr erleben dürfen. Das begeisterte Publikum dankte stehend mit jubelndem Beifall.

Akram Khan Company: „Xenos“, Tanz mit Live-Musik. Künstlerischer Leiter, Choreographie Akram Khan.
Tanz Akram Khan; Live-Musik: Nina Harries, Andrew Maddick, B.C. Manjunath, Tamar Osborn, Aditya Prakash.
Bühnendesign: Mirella Weingarten; Lichtdesign: Michael Hulls; Komposition: Vincenzo Lamagna; Dramaturgie: Ruth Little; Text: Jordan Tannahill; Fotos: © Jean-Louis Fernandez. 17. Mai 2018,  Festspielhaus St. Pölten.