John Neumeier: „Die Möwe“, Theater an der Wien
Einen erlebnisreichen Abend bescherten Choreograf John Neumeier und das Hamburg Ballett dem Publikum im Theater an der Wien mit dem Ballett „Die Möwe“. Nach dem Drama von Anton Tschechow 2002 entstanden, hat Neumeier diese wunderbare Kreation 2017 wieder aufgenommen und bietet auch in Wien ein ausgewogenes, tief empfundenes, ästhetisch traumhaft schönes Ballett über die Liebe und die Kunst, die Liebe zur Kunst, und die Kunst der Liebe. Ein großartiger Abend, der die beiden Akte von je einer Stunde im Flug vergehen ließ. Auch Tänzer*innen können fliegen und die Herzen des Publikums ebenso. Sie fliegen dem Choreografen zu, wenn er sich vor dem Vorhang zeigt.
Zu Beginn versucht allerdings die Möwe zu fliegen. Kostja sitzt verträumt im Garten der familiären Sommerfrische, über ihm der blaue Himmel, hinter ihm die Wellen des Sees. Aus Papier faltet er einen Vogel und will ihn fliegen lassen. Will. Die papierene Möwe stürzt gleich ab. Kostja reißt die Arme hoch, als wollte er selbst abheben. Er will ein Künstler werden, ein Choreograf und hat sein erstes Stück bereits im Kopf. Die Nachbarstochter Nina, seine große Liebe, soll die Hauptrolle tanzen. Auch sie hat sich der Kunst verschrieben, will Tänzerin werden. Kostjas Mutter, Irina Arkadina, ist es bereits – gewesen. Eine Ballerina mit einem nahezu erwachsenen Sohn, steht nicht mehr so häufig auf der Bühne. Das schmerzt.
Was über die beiden Akte – der erste noch sommerlich heiter, mit Tanz und Gelächter; der zweite herbstlich melancholisch, düster fast, die Menschen auf der Bühne sind nur noch Schatten, Kostja bricht der Möwe die Flügel, wirft sie zerknüllt weg, später wird sie von Mascha, auch eine, die an unerwiderter Liebe leidet, wieder aufgehoben –, die Lebenslinien und Charakteristiken der vergeblich liebenden, leidenden Personen und der Handlung an sich, kann bei Tschechow nachgelesen werden. Neumeier hält sich, wenn auch nicht im Detail, daran. Doch Gesten sind selten geschwätzig und der Körper lügt nicht, zumindest nicht bei Neumeier, so wird auch nicht um den Brei herumgeredet. Der Choreograf benötigt keine Worte, um die Schicksale seiner Protagonisten – ja, es sind die seinen, deren Sehnsüchte, Hoffnung, Wünsche, deren Enttäuschungen, geplatzte Träume und Resignation wir erleben – lebendig, verständlich und eindringlich darzustellen. Schließlich hat er sich auch ein wunderbares Ensemble erzogen. Längst sind viele Tänzer*innen der ersten Generation als Ballettmeister*innen für das Hamburg Ballett tätig.
Nicht jede einzelne Tänzerin, jeder Tänzer kann vorgestellt und entsprechend für die unnachahmliche Leistung gelobt werden, die Protagonisten seien jedoch, wie üblich, genannt.
Allen voran die beiden Gäste des Hamburg Ballett, die in Wien das Hauptpaar getanzt haben und nahezu alle zwei Akte ständig auf der Bühne sind. Als junges Liebespaar, er als Verlassener, sie in einen anderen verliebt, eher weniger erfolgreich in ihren Traumberufen und schließlich noch einmal die Liebe versuchend und (nicht nur daran) scheiternd. Dieses am Anfang so erhebend fröhliche, am Ende in seiner Kapitulation so herzzerreißend traurige Paar wird von der ehemaligen Ersten Solistin des Royal Ballet Alina Cojacaru und dem Principal Dancer des Bolschoi Balletts Artem Ovcharenko hinreißend verkörpert. Cojacaru, eine zauberhafte, junge Verliebte, die schließlich mit hängenden Schultern auf künstlerische Erfolge und die Liebe verzichtet. Sie überzeugt nicht nur durch ihre Gestik, sondern auch durch die ausdrucksstarke Mimik. Als Gast des Wiener Staatsballetts kennen sie Ballettfreundinnen bereits. Ovcharenko, ein hervorragender Tänzer und Darsteller des Kostja, kräftig und geschmeidig, sehnsüchtig und wütend auf alle, die nicht an seine Karriere glauben, hat Wien zum ersten Mal sehen dürfen. Hoffentlich ist das nicht das letzte Mal.
Eindruck hat mir auch Dario Franconi (Solist im Hamburg Ballett) gemacht. Er betritt die Bühne und ich weiß, das ist der Verführer schlechthin. Er ist Trigorin, der nicht realisiert, dass er zwar Ballette erzeugt, aber nicht wirklich von der Muse geküsst wird. Er hängst sich an den Star Arkadina, verlässt diese, um sich die junge Nina zu angeln, verlässt auch diese wieder. Die Erfüllung, in der Liebe wie in der Kunst, kann er trotz seiner Tricks nicht erjagen. Mit Eleganz und Nonchalance, ganz selbstverliebter Beau, tanzt Franconi diesen Feschak. Auch auf die Erste Solistin in Hamburg Anna Laudere darf nicht vergessen werden. Sie ist eine großartige Arkadina, der der Tanz auch nach dem Bühnenabschied wichtiger ist als der Sohn, eine die in der Kunst aufgegangen ist, und dennoch das Glück verfehlt hat. Noch nie habe ich Laudere so heiter und gelassen, ja fröhlich laut lachend, gesehen. Dass Neumeier ihr zwei wunderschöne rosa Seidenkleider zugedacht hat, erhöht den Genuss ihrer Darstellung.
Und dann noch Llloyd Riggins als Sorin, Bruder der Arkadina, mit Rückenleiden und Hut. Tanzen kann er nicht – nicht Riggins, Onkel Sorin ist gemeint –, er versucht zwar Humor zu zeigen und die gelangweilte Gesellschaft aufzuheitern, doch auch er muss aufgeben. Lässt sich einfach zu Boden fallen. Riggins, nicht nur Erster Solist, sondern auch Stellvertreter Neumeiers in Hamburg, hat eine breite Palette von Bewegungs- und Ausdrucksmöglichkeiten und die Ausstrahlung eines erfahrenen Tänzers, die mir den alternden Hagestolz richtig nahe bringen.
Als Mascha, die in Kostja verliebt ist und den jungen Lehrer ( Edvin Revazov) doch nicht heiratet, überzeugt Carolina Agüero. Patrizia Friza ist als Mutter auf der Bühne.
Mit Musik von Dimitri Schostakowitsch, Peter Tschaikowski, Alexander Skrjabin und der bekannten Schlagzeugerin Evelyn Glennie und der von ihm selbst entworfenen Bühnenausstattung ist Neumeier ein stimmiges und harmonisches Gesamtkunstwerk gelungen. Die Tänzer*innen scheinen die symphonischen Känge trotz der unterschiedlichen Kompositionen ineinanderfließend, als wäre die Partitur eigens für das Ballett geschaffen, mit ihrem Körper zu produzieren, so perfekt verschmilzt Tanz mit der Musik. Die Kunst und die Liebe, der Künstler zwischen diesen beiden Lebensentwürfen, ist eines der Lieblingsthemen Neumeiers. In vielen seiner Choreografien ist wenigstens eine Figur ein Künstler / eine Künstlerin. Diesmal erzählt er auch ein wenig von der Geschichte seiner Kunst, dem Ballett. Kostja hat als angenehender Choreograf ein Stück kreiert, dieses verlacht die lieblose Mutter – es ist zu avantgardistisch. Nina wird zwar keine große Ballerina, sie landet im Revuetheater. So gibt Neumeier in den Ausschnitten, die immer neue Stücke im Stück zeigen, den Blick auf den Tanz an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert frei. So wird nicht nur die Seele beflügelt, sondern auch das Gehirn.
Nicht bei allen im Publikum, manche können was auch immer kaum erwarten und klatschen in die wunderbare stille Schlussszene hinein, wenn die Musik verstummt ist und Mascha im Brautkleid auf der Bühne des kleinen Sommertheaters sitzt und eine weiße Papiermöwe streichelt. Schade um die schöne Stimmung, die Überieifrige und Wichtigmacher zerstört haben. Dem Genuss dieses feinen Handlungsballetts voller Gefühle, aber auch mit Ironie und Parodie, mit Humor und Augenzwinkern, eine traurige Komödie eben, konnten sie nichts anhaben.
„Die Möwe“, Ballett von John Neumeier, frei nach dem gleichnamigen Drama von Anton Tschechow. Choreografie, Bühnenbild und Kostüme von John Neumeier. Dirigent des Wiener Kammerorchesters: Markus Lehtinen, als Ballettdirigent auch an der Wiener Staatsoper tätig. Pianist: Mark Harjes, Hamburg Ballett. Violine: Wolfgang Redik; Violoncello: Cäcilia Altenberger. Gesehen am 7. Mai 2018, Hamburg Ballett im Theater an der Wien.
Zweite Vorstellung am 8. Mai 2018.
Fotos: Kiran West