Rudolf Nurejew nach Marius Petipa: "Raymonda"
Alls Höhe- und Schlusspunkt des großen zaristischen Balletts wird das abendfüllende Ballett von Marius Petipa gefeiert. Rudolf Nurejew hat die Choreografie für Paris eingerichtet, danach wurde sie in Wien übernommen. Ballettdirektor Manuel Legris hat den erfolgreichen Ballettabend – 40 Mal war er von 1985 bis 1999 an der Wiener Staatsoper zu sehen – neu einstudiert und damit 2016 auch einer neuen Generation von Ballettfans Freude bereitet. Ab 9. März 2018 tanzen Raymonda und ihr Bräutigam Jean de Brienne acht mal bis zur Hochzeitsnacht.
Dem Ballett große Dramatik anzudichten, ist pure Übertreibung. Die Handlung ist schlicht und schnell erzählt: Raymonda muss heiraten, doch der von der Tante Auserwählte befindet sich im Krieg gegen die Sarazenen, sie kennt ihn nur von Bildern, zum Glück gefällt er ihr. Doch auch der Sarazenenfürst Abderachman giert nach ihr und will sie entführen. Als deus ex machina erscheint der edle Ritter, der wilde Abderachman unterliegt im Zweikampf, schnell haben sich Raymonda und Jean verliebt und die Hochzeit kann gefeiert werden.
Die Hauptrolle spielen die Divertissements, eine unaufhörliche Show von Gruppentänzen, Solis und Pas des deux, ein Aufmarsch von Tänzerinnen und Tänzern (in Wien verstärkt durch Studierende der Ballettakademie der Wiener Staatsoper), ein Defilee prächtiger Kostüme in wechselnder Beleuchtung, eine Ausstellung der eindrucksvollen Bühnenbilder von Nicholas Georgiadis. Pure klassische Tanzkunst. Das Publikum ist hingerissen, hörbar auch von Mihail Sosnovschi als Abderachman, den besten Sarazenenfürsten, den die Compagnie zu bieten hat.
Was aber dieses netto zweieinhalb Stunden lange Ballett so wertvoll macht, ist die Musik Alexander Glasunows, die dieser als Auftragswerk 1897 abgeliefert hat. Dirigent Kevin Rhodes hat mir das bei der Aufführung am 9. März gemeinsam mit dem Staatsopernorchester endlich klar gemacht. Mit zwischen Tänzer*innen und dem Orchester geteilter Aufmerksamkeit lässt er in den Adagiopassagen den Frühling ahnen und macht dem Winter samt Sarazenen, Ungarn und Spaniern Feuer unter dem Hinterteil. So schnell hat das gesamte Ensemble seine Beine noch nie geworfen, so rasant haben sich die Damen und Herren noch kaum gedreht. Doch Rhodes kennt die Wiener Compagnie seit langem und ist ein Liebling der Tänzer*innen. Dieser Liebe hat sich das Publikum längst angeschlossen, Rhodes wird eingeklatscht, noch bevor er den Orchestergraben betreten hat.
Die Wiederaufführungen glänzen mit zahlreichen Rollendebüts. Einen ersten Versuch als Jean de Brienne darf Halbsolist Leonardo Basilio wagen. Wie die der Raymonda, ist auch seine Rolle nicht wirklich ausgefeilt. Dieser Ritter hat keine Konturen und keinen Charakter, wie auch seine junge Braut eher eine blasse Figur ist. So haben es sowohl der Rollendebütant als auch die großartige Liudmila Konovalova als Raymonda schwer, lebende Figuren darzustellen. Basilio ist noch auf seine Schritte konzentriert, versucht, nach den Sprüngen sauber zu landen; Konovalova hat ihre Drehungen und Battements zwar in der kleinen Zehe, kann aber, wo keine Rolle ist, auch keine gestalten. Sie zeigt lupenreinen klassischen Tanz, mit flinken Füßen auf sicherer Spitze und weichem Port de bras. Bestens klappt es für beide im Pas de deux, Konovalova ist eine hilfreiche Partnerin für junge Tänzer, die noch etwas zaghaft auf den Beinen sind.
Leichter haben es die beiden jungen Paare, die frische Farben ins provençalische Schloss bringen. Corpstänzer Scott McKenzie und Solotänzerin Nikisha Fogo tanzen ihre Rollen (Provençalischer Troubadour / Raymondas Freundin Clémence) zum ersten Mal, Natascha Mair und Richard Szabó (Freundin Henriette / Aquitanischer Troubadour) sind bereits erfahren als übermütige Jugend. Diese vier sind keine leblosen Marionetten, sondern Teenager, denen der Schalk im Nacken sitzt, Krieg hin, Sarazenen her. McKenzie tanzt sich, seit er 2016 von der Royal Ballet School nach Wien gekommen ist, mit Eifer und Können nach vorn und fällt auch im Corps de Ballet immer wieder auf. Herausstechend ist auch immer von neuem Madison Young, die seit dem Vorjahr das Corps bereichert. So kurz wie sie in Wien weilt, tanzt sie nahezu jede Rolle zum ersten Mal. Diesmal ist sie im Walzer und vor allem im Grand Pas classique hongrois, dem feurigen Höhepunkt des Hochzeitsfestes, zu bewundern. Immer wieder auch mit einem unserer prägnantesten, verlässlichsten und auch elegantesten Halbsolisten: Dumitru Taran. Er schafft es, nicht nur seine Rolle, ob als Walzertänzer, als Ungar oder im ungarischen Grand Pas, auszufüllen, sondern auch noch zu vermitteln, welche Freude ihm das Tanzen bereitet.
Rikako Shibamoto, die Anmutige, wird diesmal nicht erwähnt, sonst wird’s zu viel, doch dass Andrés Garcia-Torres – als Spanier aus Salamanca tanzt er natürlich auch im Spanischen Tanz – alle Erwartungen füllt, darf noch einige Male gesagt werden. Auch für ihn ist jede Rolle ein Debüt, ist er doch erst im Herbst 2017 vom Volksopernensemble des Staatsballetts in die Operncompagnie gewechselt. Dynamisch und in perfekter Haltung erfreut mich auch das Solistenpaar im spanischen Tanz. Dirigent Rhodes kennt keine Gnade, streut Ioanna Avraam und Alexandru Tcacenco Paprika in die Adern und lässt sie zum Klappern der Kastagnetten über die Bühne wirbeln.
Eindeutig gehört dieser animierte und animierende Abend (auf den Rängen und im Stehparterre kann man sich nicht zurückhalten vor lautem Jubel) dem Dirigenten Kevin Rhodes und dem Orchester, die Glasunow alle Ehre machen.
„Raymonda“, Ballett in drei Akten nach einem Libretto von Lydia Paschkowa und Marius Petipa. Choreografie: Rudolf Nurejew nach Marius Petipa. Musik: Alexander Glasunow, dirigiert von Kevin Rhodes. 48. Aufführung seit 1985, 9. März 2018. Wiener Staatsballett in der Staatsoper.
Weitere Aufführungen in wechselnder Besetzung: 10., 11., 13. März, 2., 7., 12., 14. April 2018.
Fotos von Ashley Taylor (© Wiener Staatsballett / Ashley Taylor)