Olga Esina: Rollendebüt in "Raymonda"
Mit zahlreichen Rollendebüts wartete auch die 2. Vorstellung des wieder aufgenommenen Balletts „Raymonda“ von Rudolf Nurejew nach Marius Petipa auf, allen voran Olga Esina in der Titelrolle – ein hinreißendes Rollendebüt der Ersten Solotänzerin, ein großer Auftritt nach ihrem Karenzurlaub. Trevor Hayden und Tristan Ridel aus dem Corps de Ballet präsentierten sich, sauber und synchron, zum ersten Mal als unternehmungslustige Troubadoure. Als deren Partnerinnen entzückten, wie immer, die Solotänzerinnen Ioanna Avraam und Alice Firenze. Alena Klochkova, Halbsolistin und langjähriges Mitglied des Wiener Staatsballetts, trat als Gräfin Sibylle, Tante der Raymonda, in Erscheinung und tanzte entsprechend mit Igor Milos als König von Ungarn auch im ungarischen Tanz die Solovariation. Die junge Halbsolistin aus der italienischen Riege Elena Bottaro gefiel mit Rikako Shibamoto im Grand Pas classique hongrois.
Mit ihrer Darstellung der Raymonda hat die Esina die Bühne zurückerobert. Anfangs noch etwas nervös, tanzt sie bald souverän und anmutig sämtliche Variationen, was das Publikum lautstark zu würdigen weiß. Nurejews „Raymonda“ fasziniert durch schwierige Variationen, fordert sowohl von den Solistinnen als auch vom Corps höchste Konzentration und anstrengende Beinarbeit. Bald schmerzen meine Zehen, die Solistinnen stehen nahezu ständig auf der Spitze, schweben und wirbeln über die Bühne. Die Herren tun es ihnen gleich, sind aber nicht in das Marterinstrument Ballettschuh gezwängt. Ohne Fehl und Tadel hüpfen, springen und trippeln die beiden Troubadoure (Hayden, Ridel) den für sie neuen Part. Bei Wiederaufnahmen werden keine Bühnenproben mehr angesetzt, was vor allem dem Corps die Arbeit – nie soll man es vergessen: Ballett ist Schwerstarbeit, doch die darf niemand sehen – nicht leichter macht. Obwohl zurzeit neben den Proben im Ballettsaal eine Vorstellung nach der anderen getanzt wird, lassen sich Walzertänzer*innen, Sarazen*innen oder Ungar*innen (nicht nur die Solist*innen, auch die Gruppentänzer*innen schaffen es durch Hand- und Körperhaltung ziemlich papriziert zu wirken) keine Müdigkeit anmerken. Erst nach dem Schlussapplaus zeigen die weichen Knie, wie anstrengend diese Tage für sie sind.
Dirigent Kevin Rhodes geht es in dieser 9. Aufführung der Legrischen Neueinstudierung gemächlicher an, treibt die Tänzerinnen nicht, wie am Abend davor, immer schneller über die Bühne, sodass sie diesmal keine Mühe haben, die schnellen kleinen Schritte und Fußbewegungen zu ordnen. Die Temporeduktion ist vielleicht für das Publikum weniger spektakulär, gibt aber den Ballerinen und Ballerinos Gelegenheit, auch an der Rollengestaltung zu arbeiten.
Olga Esina muss sich auf die Bewegungsabläufe nicht mehr konzentrieren, der geübte Körper macht sie von selbst, die Tänzerin zeigt nicht nur perfekten Tanz, etwa und nicht nur in der schnellen, ganz auf Spitze zum Klaviersolo getanzten Variation im finalen Grand Pas, sondern erweckt ihre Raymonda zum Leben. Gesten und Mimik spiegeln deutlich Furcht und Freude, Abscheu und Liebe wider. Hingebungsvoll schmiegt sie sich an den ihr zugeteilten Ritter, hat sie doch in Jakob Feyferlik einen kongenialen Partner.
Dem jungen Solotänzer scheint die Rolle auf den Leib geschrieben. Er hat den Ritter Jean de Brienne schon vor zwei Jahren, bei der Premiere der Neueinstudierung durch Manuel Legris, getanzt und seitdem an Selbstsicherheit, Mut und Ausdruckskraft gewonnen. Kein lahmes Bürscherl sitzt jetzt auf dem Pferd, sondern ein edler, auch tapferer Rittersmann.
Wie animierend das Charisma einer Solistin / eines Solisten, selbst wenn es so zart und durchsichtig ist, wie das der Esina, auch auf ihre Umgebung wirkt, zeigte Vladimir Shishov. Auch er hat seinen Abderachman mit mehr Temperament ausgestattet, springt höher, wiegt sich weicher in den Hüften und kommt dem mich nachhaltig begeisternden Abderachman von Christian Rovny schon ziemlich nahe.
Rovny begeisterte bis 1999 als Sarazenenfürst. Auch damals schon hat Kevin Rhodes, erst knapp über 30, das Orchester geleitet. Jetzt ist Vladimir Shishov dran und fühlt sich in der Rolle sichtlich wohl.
Um nochmals auf die harte Arbeit des Balletttanzes zurückzukkommen: Wenn ein junger Tänzer relativ neu im Ensemble ist und zeigen will, was er leisten kann, geht das oft schief. Andrés Garcia-Torres wollte im Ungarischen Tanz noch höher springen, noch exakter die Füße setzen und musste verletzt aufgeben. Man wird ihn längere Zeit nicht sehen. Das Publikum hält den Atem an, die Tänzer*innen tanzen unbeirrt weiter. Sie wissen, auch die Verletzung gehört zum Tanz. Garcia-Torres sei eine baldige Genesung gewünscht.
Mitten in die Aufführungserie von "Raymonda" fällt übrigens der Geburtstag des Schöpfers Der Balletttänzer und Choreograf Marius Petipa ist am 11. März 1818 in Marseille geboren. Nach seiner Ausbildung, vor allem durch seinen Vater, Jean Antoine, und Erfolgen in Frankreich und Spanien, ließ er sich in St. Petersburg nieder. Im ehemaligen Russland hat er sich mit seiner choreografischen Arbeit den Title "Vater des klassischen Balletts" verdient. An die 80 Ballette schuf er vor allem für die Compagnie in St. Petersburg (Mariinsky Theater) und Moskau (Bolschoi Theater). Am bekanntesten sind die Märchenballette zur Musik von Peter I. Tschaikowsky "Dornröchen", "Nussknacker", "Schwanensee", aber auch "Die Bayadere" und "Don Quixote" zur Musik von Léon Minkus und sein letztes großes Werk "Raymnda" sind immer noch im Repertoire der großen Compagnien. Eine Reihe von Choreografien sind erst durch Rudolf Nurejew bekannt geworden, der sie für einige Compagnien, vor allem die Pariser, aber auch die Wiener ("Schwanensee") verändert und neu einstudiert hat. "Don Quixote" oder "Die Bayadere" waren vor Nurjewes Flucht in den Westen nur in Russland bekannt. Nach seiner Entmachtung als Ballettchef in St. Petersburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts, zog sich Petipa in sein Haus auf der Krim zurück, schrieb seine Memoiren und starb 1910 mit 92 Jahren, wovon er mehr als 60 in Russland verbracht hatte.
„Raymonda“, 49. Vorstellung der Choreografie von Rudolf Nurejew nach Marius Petipa. Mit Olga Esina, Jakob Feyferlik, Ionna Avraam, Alice Firenze, Trevor Hayden, Tristan Ridel, Alena Klochkova. Dirigent: Kevin Rhodes. 10. März 2018, Wiener Staatsballett in der Staatsoper.
Weitere Vorstellungen: 11., 13. März, 2., 7., 12., 14. April 2018.
Bilder: © Wiener Staatsballett / Ashley Taylor